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David S. Luft: Eros and Inwardness in Vienna

David S. Luft: Eros and Inwardness in Vienna: Weininger, Musil, Doderer. Chicago u. London: he University of Chicago Press 2003. 257 S., geb., USD 36,-

Gegenüber dem Verhältnis zwischen analytischem, ins Detail gehendem historischen Spezialistentum und auf Zusammenschau abzielendem, in großen Zügen darstellendem geistesgeschichtlichen Denken, dessen eigentliche Aufgabe darin besteht, Kategorien zu hinterfragen, ist vorsichtiges Mißtrauen oft die freundlichste Haltung. Ehe wir uns also dem vorliegenden Buch zuwenden, ist es geboten, zur Praxis der Geistesgeschichte selbst eine entsprechende Einführung zu geben, da man leicht außer acht läßt, wie notwendig verschieden die Methoden einer sachbezogenen Disziplin, die saubere und klare Linien zeichnet, von jener der Geistesgeschichte sind, die ebendiese Linien ausradiert und die ganze Karte von unerwarteten Blickpunkten aus neu entwirft. Und doch benötigt ein jeder Vorgang den anderen. Kaum hatte Professor Friedrich Nietzsche Die Geburt der Tragödie veröffentlicht, erklärten die meisten seiner akademischen Kollegen ihn als Gelehrten für tot; seine Anklageschrift gegen die Pedanterie erbsenzählender Philologen half wiederum den Umsturz der Maßstäbe hervorzurufen, der zum Werk von Sprachwissenschafts-Poeten wie A. E. Housman, J. R. R. Tolkien und Raoul Schrott führte. Im Gegensatz dazu bilden die exakten Einzelheiten einer fest umrissenen Disziplin die solideste Kontrolle leichtfertiger, fälschlich generalisierender Behauptungen, jener Versuchung, welcher die Geistesgeschichte gern erliegt. Heutige Leser studieren beispielsweise Spenglers Untergang des Abendlandes fast nur als anschauliches Beispiel dafür, was zur Zeit der Abfassung dieses Buches gedacht wurde, keineswegs als glaubwürdige Synthesis seines dargelegten Inhalts; schnell durchschaute der durchschnittliche akademische Historiker, auf welch schwankenden Grund Spengler einige seiner besonders apodiktischen Verallgemeinerungen gestellt hatte. Akademische Alltagsgeschäftigkeit wird durch interdisziplinäre Geistesgeschichte aus ihrer Lethargie gerüttelt, während fachwissenschaftliche Spezialforschung die Geistesgeschichte zur Redlichkeit anhält.

Ebenso wie die trefflichste historische Einzeldarstellung sind auch geistesgeschichtliche Werke schwer zu schreiben, zumal wenn der Autor unerschütterlich eine einzige Hauptthese im Mittelpunkt seiner Arbeit festhalten, dabei jedoch durch schärfste Beleuchtung die Einzelheiten in jedem Augenblick anschaulich machen muß. Vergißt er den Leitgedanken, werden die Einzelgegenstände zu einer Ansammlung von Schnappschüssen. Läßt er die beispielgebenden Einzelheiten außer acht, verflüchtigt sich die These, zu diffus, um ihre Identität zu behalten, in ein Gas ohne Ballon. Gleich einem künstlerischen Meisterwerk hebt die allerbeste Geistesgeschichte ihren Gegenstand über das Aktuelle hinweg ins Zeitlose. Angesichts der brillanten Verschmelzung von Abstraktem und Konkretem bei, um nur zwei Beispiele zu nennen, Adorno und Benjamin, haben Leser, die nicht im geringsten mit deren Auffassungen übereinstimmen, über Jahrzehnte hinweg eine immer größer werdende Achtung vor deren Einsichten entwickelt. Wer könnte einen Essay wie Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit anders lesen als mit Staunen? Ein jeder Satz befördert unverzüglich die Weiterentwicklung einer klaren Gesamtaussage und bringt ebendafür ein haarscharf treffendes Beispiel. Ähnlich hält in der Österreich-Forschung Schorskes Fin-de-siècle Vienna volles Erfassen einzelner Sachkenntnisse mit weiter Zusammenschau im Gleichgewicht. Wenn Schorske über Politik schreibt, zeigt er sich informiert wie nur ein Politologe es sein kann, seine Auseinandersetzung mit Kunst ist so gründlich wie die eines Kunsthistorikers, und seine Literaturangaben könnten nicht klüger und einfühlsamer sein, wäre er allein auf diesem Gebiet ein außergewöhnlich begabter Spezialist. Gleichermaßen zeigt ein Buch wie Die Anarchie der Vorstadt von Maderthaner und Musner, das in der Absicht geschrieben wurde, eine Antwort auf Schorske zu geben, indem es den Blick von der Ringstraße und ihrer hohen Kultur weg in die Außenbezirke und deren wirtschaftliches Elend wendet, dieselbe Fähigkeit, weitgefaßte allgemeine Aussagen mit relevanten konkreten Beispielen zu durchflechten.

David. S. Lufts gründliches neues Werk der Geistesgeschichte braucht, auch wenn es ihm zeitweise an Klarheit mangelt, den Vergleich mit diesen herausragenden Vorgängern dennoch nicht zu scheuen. Luft ist dort am stärksten, wo er wertvolle konsolidierende Urteile über die gesamten, der Dynamik seiner Zeit entgegenlaufenden Strömungen in Werk und Leben eines Autors liefert, indem er tiefsinnig untermauerte gültige Regeln aufstellt, die neue Blickpunkte auf seinen Gegenstand eröffnen. Fast unmerklich aber aufschlußreich unterscheidet sich seine Sicht von der des Philosophen, Psychologen oder Literaturwissenschaftlers. Dennoch beherrscht er größtenteils diese und andere Disziplinen in einer Weise, die sein Werk überzeugend erscheinen lassen.

Am besten gelingt dies Luft bei Musil, für den er im angloamerikanischen Sprachraum mit ebenso anhänglicher wie unermüdlicher Hartnäckigkeit und tiefem Einblick eingetreten ist. Wenn Musil dort relativ besser bekannt ist als Weininger oder Doderer, so ist dies in hohem Maße Lufts Anstrengungen zu verdanken, der hier seine vorangegangene Arbeit erweitert, um auch Musils Sichtweise der Erotik als einer sozialen und psychologischen Macht einbeziehen zu können. In der Tat ist dies sein für alle drei Autoren geltender Grundgedanke - für sie sind Eros und Geschlecht betreffende Themen eine Art von „attempting to come to terms with modern science in the context of a philosophical irrationalism [...] and they expressed themselves in terms of an idiom of gender and a preoccupation with sexuality“ (S. ix). Allein schon über Weininger und Doderer zu schreiben, beweist bewundernswerte Hingabe, da diese im englischen Sprachraum nicht einmal den schwankenden Rückhalt gefunden haben, den Musil genießt; gibt es doch eine gewisse allgemeine Frustration, das Rad neu zu erfinden, um österreichische Dichter und Denker, deren Anerkennung außerhalb der deutschsprachigen Welt auch nach wiederholten Bemühungen ausgeblieben ist, abermals in Augenschein zu nehmen, aber dennoch geht Luft mit Eifer und Überzeugung ans Werk. Wenn er mit Musil besser umgeht als mit Doderer, so geschieht dies wegen seiner eindeutig tieferen und längeren Vertrautheit mit Musil. Geht er mit Doderer besser um als mit Weininger, so deshalb, weil das extreme Durcheinander in Weiningers Denken sogar den Weisesten niederdrücken kann. Weininger selbst hat nie entschieden, ob er seine Behauptungen wörtlich meinte oder nicht. Während Luft also die persönlichen Aspekte, die fragile psychische Konstitution, die den Suizid für Weininger beinahe unvermeidlich machte, mit Scharfsinn beobachtet, wird er klarer, wenn er sich bei dessen Themen und Ideen auf Weininger-Experten wie etwa Jacques Le Rider beruft. Wir bekommen eine gerechtere Vorstellung von Lufts großen Qualitäten, wenn wir dort ansetzen, wo seine wirkliche Stärke liegt, und wenn wir von dieser ausgehen.

Lufts Kapitelüberschrift zu Musil „Love and Human Knowledge“ (S. 91 - 134) faßt seinen Ansatz in vier Worten gut zusammen, und sein Hauptargument ist, daß Musil „made the most important of any twentieth-century thinker to come to terms with both modern scientific thinking and an irrationalist approach to the feelings“ (S. 91). Seine Sachkenntnis erlaubt es Luft, die ganze Bandbreite von Musils Werk - in aufschlußreichen Auseinandersetzungen mit „Science and the Writer“ (S. 93 - 103), „Sexuality and Ethics“ (S. 103 - 115), „Gender and the Other Condition“ (S. 126 - 134) und anderen ähnlichen Themen - souverän heranzuziehen. Der Literaturwissenschaftler sucht natürlich nach spezifischen Auseinandersetzungen mit dem Törleß oder dem Mann ohne Eigenschaften, den Novellen und Schauspielen, und Lufts diesbezügliche Kommentare in den Perspektiven von Geschlecht und sozialer Identität, Sexualität und Ethik, Eros und Erkenntnistheorie gewinnen an Schlüssigkeit nicht allein durch deren Überprüfung an den literarischen Werken (obwohl Luft Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer übersehen hat - wem passiert dergleichen nicht!), sondern sie werden überdies an Musils essayistischen Werken belegt, die auf eine Ebene mit den literarischen Texten gestellt werden. Luft würde sich vielleicht auf Musil selbst berufen, um diese Gleichwertigkeit zu begründen, wie er denn bemerkt, daß „Musil thought of literature as the whole of the spiritual development of a given period.“ (S. 99). Der Abschnitt über Musils Auffassung von der Rolle des Schriftstellers gelingt Luft, indem er in Musils eigenen Begriffen zeigt, was dieser versuchte, nämlich „[to] reconcile intellectual life with the erotic connections between men and women, and, more generally, to overcome the separation in the culture between intellect and feeling“ (S. 104), in der Tat in außergewöhnlich plausibler und erhellender Weise. Ein praktischer Vorschlag: Man erwäge Lufts luzide Formulierungen, wende sie auf die schwer durchschaubaren Vereinigungen an und beobachte, ob diese Erzählungen so nicht verständlicher werden.

War es tatsächlich der Streit zwischen empirischer Wissenschaft und irrationalistischen Methoden, der das, wovon die drei von Luft beschriebenen Persönlichkeiten geprägt wurden, eigentlich zusammenfaßt, dann trägt das Kapitel über Doderer, „Sexuality and Politics of the Fascist Era“ (S. 137 - 181) die passende Überschrift. Auch wenn Doderer das Kaiserreich und zwei Republiken sowie eine Auslese autoritärer bzw. totalitärer politischer Formen erlebte, so war es doch der Faschismus, der ihn tragischerweise anzog und dann, nach heftiger Reaktion seinerseits, seinen geistigen Reifungsprozeß bestimmte. Welches System oder welche Annäherung an eine behauptete politische Realität war jemals auf der einen Seite wissenschaftlicher und bürokratischer, auf der anderen aber irrationaler und chthonischer als die faschistische bzw. nationalsozialistische Bewegung? Luft argumentiert, daß genau diese gegensätzlichen Komponenten es waren, die einen Mann mit neurotischen Polaritäten wie Doderer ansprachen, und seine Analyse der komplexen intellektuellen und psychologischen Faktoren in „The Novel and National Socialism“ (S. 149 - 156), die zu Doderers vorübergehender Hinneigung zur NSDAP führten, ist beinahe die klarste Kurzbetrachtung dazu überhaupt; da der Abschnitt über „Ideology and the Novel“ (S. 168 - 181) jene politischen Fragen in den Dämonen (oder vielmehr: in The Demons), die zu höchst unterschiedlichen politischen Reaktionen seitens der Leser geführt hatten, scharfsinnig umreißt. So stellt Luft - auf eine Weise, wie wenige Literaturwissenschaftler es gewagt haben - Doderers politische Einstellung nicht als festgefahrene Verliebtheit in die Vergangenheit, sondern als einen Wachstumsprozeß durch die Methode des Versuchs und des (gewaltigen) Irrtums dar. In gründlicher Kenntnis von Magris, Reininger und anderer (vornehmlich negativer) Kritiker behauptet Luft mit Nachdruck, daß „no Austrian writer did more than Doderer to shape Austrian ideology away from the Habsburg monarchy and toward the reality of the Second Republic in the 1950s“ (S. 137). Nach Luft war es ein Teil dieses Prozesses, jene Charaktere in den Dämonen, die Surrogate seiner selbst waren - Stangeler, Schlaggenberg und Geyrenhoff - einer schonungslosen Kritik bezüglich der von ihnen erkorenen Selbsttäuschungen und Unzulänglichkeiten zu unterziehen. Der Abschnitt über „Eros and Apperception, 1938 - 1955“ (S. 156 - 168) zeigt die tatsächlichen Verbindungen innerhalb des Gedankenbogens, durch den Doderer sexuelle Aktivität und politische Ideologie als Probleme der Wahrnehmung und Intentionalität gleichstellte, und die Kommentare zur „Zweiten Wirklichkeit“ (S. 179 - 181) sind in ihrer klaren und kurzen Präzision wahrhaft ausgezeichnet.

Lufts ganze Auseinandersetzung mit Doderer ist eine eindeutige Bereicherung, umso bedauerlicher sind indes seine Grenzen. Der Roman, aus dem schließlich Die Dämonen erwuchsen, hieß ursprünglich „Die Dämonen der Ostmark“, nicht „Die Dämonen von Ostmark“ (wie z. B. auf S. 156). Luft hat ein sicheres Gespür für die Beziehungen zwischen Ideologie und Sexualität in Die Bresche und Jutta Bamberger als Vorläufer der Dämonen, doch übersieht er andere Werke - die Divertimenti I, II, III und VII, Erzählungen wie „Eine Tätowierte“, „Sie verkauft sich“ oder „Ein anderer Kratki Baschik“ - als noch aussagekräftigere Beispiele zum selben Thema. Bei allem lobenswerten Eifer, Werke von Doderer herauszufinden, die des Deutschen unkundige Leser zu erreichen vermögen, nimmt er keine Notiz davon, daß die Southern Humanities Review im Lauf der Jahre eine Anzahl von Werken Doderers auf Englisch veröffentlicht hat (die Divertimenti III und IV, die Novelle „The Last Adventure“, einen anderen Abschnitt als den von ihm zitierten aus The Strudlhof Steps und die beiden Essays „The Return of the Dragons“ und „Sexuality and the Totalitarian State“). An dieser Stelle ist auch anzumerken, daß Luft immerzu sorgsam zu definieren trachtet, was er unter dem Begriff ,liberal‘ versteht, niemals aber seinen Gebrauch von ,konservativ‘ erörtert: er verwendet diesen Begriff, als wäre seine Bedeutung selbstverständlich; wenn er also fortwährend behauptet, daß Doderer konservativ gewesen sei und andere benennt, die denselben Begriff gebrauchen, ist es nicht wirklich möglich, ganz sicher zu sein, was genau er meint.

Wer vermochte jemals, Weininger ohne steigendes Schwindelgefühl zu lesen? Luft verdient höchstes Lob dafür, daß er eine schlüssige Beschreibung dieser widersprüchlichen Figur überhaupt versucht hat - erfreulicherweise ist es ihm sogar gelungen, sein Reizthema mit bemerkenswerter Klarheit zu erfassen. Der Abschnitt „Gender and Charakter“ (S. 47 - 54) in dem Kapitel über Weininger, „Otto Weininger’s Vision of Gender and Modern Culture“ (S. 45 - 88), bietet, gestützt durch Argumente anderer Weininger-Kommentatoren, eine außerordentlich einleuchtende Begründung, warum Leser des 21. Jahrhunderts sich mit einem Schriftsteller befassen sollten, der, wenn er nicht tatsächlich ein wütender Misogyn, Antisemit, Homophober und religiöser Fanatiker war, all dies wenigstens zu sein schien. Da, wie Luft folgert, feinfühlige und menschenfreundliche Kommentatoren von Weininger stets fasziniert waren, müsse es da mehr geben, als beim ersten Eindruck zu erkennen sei. Stärker als bei fast allen anderen Schriftstellern sei „Weininger’s intellectual work [...] closely connected to his person“ (S. 47), in einem solchen Ausmaß, daß das eine nicht ohne das andere erörtert werden könne. Anerkennung verdient auch Lufts Behandlung der Person, wenn er, sich gelegentlich geradezu für ihn einsetzend, durchgehend daran festhält, daß Weininger durch die einzigartige Wildheit seiner Begierde, die Konflikte in seiner Kultur zu verstehen, die den Konflikten in ihm selbst gleichwertig waren, zu den meisten extremen Formulierungen (oder gar, in bestem pseudo-empirizistischen Stil: Formeln) getrieben worden sei. Weiningers Leser können niemals sicher sein, ob eine bestimmte Behauptung denotativ gemeint ist oder nicht; einige der aufsehenerregendsten Formulierungen über Geschlechts-Identität und ethisches Verhalten mögen Aphorismen oder Metaphern sein. Wenn Luft also beispielsweise mit erheblichem Nachdruck behauptet, Weininger sei kein Frauenhasser gewesen (S. 36), bewältigt er nicht die grundlegende Frage, welcher Modalität sich Weininger bedient, kryptisch zarathustranischer Behauptung über das angebliche Thema hinaus oder buchstäblich ,wissenschaftlicher‘ Suche. Wenn Geschlecht ohnehin eine „Metapher“ (S. 3f.) für Politik, Ethik oder etwelche psychologischen Anspannungen ist, kann jegliche Behauptung Weiningers für etwas anderes stehen. Selbst wenn Lufts Unsicherheit in dieser Angelegenheit das Kapitel im Unbestimmten läßt, bietet es daneben doch viel an blitzartiger Einsicht und Verständnis, was zu neuerlichem Überdenken einer Persönlichkeit zwingt, die nuancierter war, als zumeist eingeräumt wird. Luft verfügt, was Weiningers persönliche und kulturelle Auseinandersetzungen betrifft, über wirkliches Einfühlungsvermögen, wie es bester Geschichtswissenschaft dienlich ist; er entläßt den Leser mit größerem Feingefühl für Weiningers Persönlichkeit, und solches Feingefühl allein vermag das Verständnis des Werks zu vertiefen.

Lufts ergiebiges erstes Kapitel „Science and Irrationalism in Vienna, 1848 - 1900“ (S. 13 - 42) erfordert, da es weit mehr hält als es verspricht, geradezu ein wiederholtes, langsames Aufnehmen der vielen verschiedenen aufschlußreichen Kommentare zu Politik, Gesellschaft, Kunst, Philosophie und anderen Themen. Es bietet um so vieles mehr, als sein vergleichsweise reduktiver Titel aussagt, daß dem Leser inmitten der einzelnen Ideen die allgemeine Orientierung abhanden zu kommen droht. So führt etwa Lufts Hinweis darauf, daß der Liberalismus auf eine kleine Gruppe der wohlhabenden Mittelschicht beschränkt war (S. 18), verbunden mit der Erörterung des Wechsels von revolutionärem Liberalismus zu politischem Konservatismus (S. 27), direkt ins Zentrum der Spannungen im Wien um 1890, ganz ebenso wie seine Anmerkung, daß Klimts Werk irrationale Ängste freisetzte (S. 33), was dieses viel kontroverser machte als irgendwelche Darstellungen von Nacktheit oder erotische Inhalte. Die Diskussion um den wissenschaftlichen Materialismus, wie sie in der Medizin in Wien hervortrat (S. 22 - 24), ist ein ebenso wertvolles Mittel zum Verständnis der intellektuellen Opposition dieser Zeit. Gleichermaßen wichtig ist Lufts Klärung der historischen und intellektuellen Unterscheidungen zwischen Deutschland und Österreich während des 18. und 19. Jahrhunderts (S. 10). Dennoch gibt es hier zeitweise mehr Aussage als Beispiel. Wie anders läßt sich spezifisch sagen, daß Klimt mit Nietzsche und Schopenhauer verbunden sei (S. 33) als durch Behauptung? In welcher Weise trägt „enthusiastic advocacy of science and progress“ zu einem „dark sense of fatalism and determinism“ bei (S. 26)? Man ahnt die Wahrheit, doch es fehlen die Denkschritte. Während Luft in diesem Kapitel neue Formulierungen bekannter Wahrheiten über Wien um 1900 bietet und klare und provozierende Argumente vorbringt, die den Diskurs zu bereichern versprechen, erreicht er doch nicht ganz die Klarheit von Janik und Toulmin über beispielsweise Ernst Mach, um einen meisterlichen Passus anzuführen. Was Luft genau sagen möchte, ist, daß die verschiedenartigsten kulturellen Antriebskräfte zur selben Zeit wechselseitig Druck ausübten, daher wäre es seiner Absicht zweifellos kaum dienlich, wenn er eine Liste von Einzelheiten durchgehen würde - dennoch, seine Leitidee von Wissenschaft versus Irrationalität deckt das Kapitel in seiner Fülle nicht ab. Die komplexen thematischen Verzahnungen erfordern spezifischere Überleitungen und eine deutlichere Verbindung von Beispielen zum Behaupteten.

Kaum ein Literaturwissenschaftler, der sein Geschäft versteht, wird Luft in etlichen Passagen anders als mit Unbehagen lesen. Wie schon angemerkt, stellt Luft Musils Essays auf genau dieselbe Argumentationsebene wie die Romane und Erzählungen, wie er auch, bezüglich der augenscheinlichen und beispielhaften Relevanz für seine Ideen, keinen Gattungsunterschied zwischen Doderers Roman- und dessen Tagebuchwerk kennt. Diese Verwischung aller Unterschiede zwischen imaginativer und diskursiver Schaffensweise genügt, zumal sie heute allgemein üblich ist, seinen Ansprüchen. Dieser Umstand hat dem Studium der Literatur, das sein Augenmerk auf die elementaren Formen des Erzählens richtet, gleich ob es sich um Fiktion handelt oder nicht, neue Impulse gegeben - doch Literatur bleibt Literatur, eine Kunst, etwas in autonomer Form Gestaltetes, und oft übersieht Luft eben diese grundlegende Tatsache. Kann eine Autobiographie als ein geformtes Kunstwerk wie ein Roman analysiert werden, dann wird Literatur nicht ärmer, sondern reicher. Luft indessen neigt zu ungebührlichen Vereinfachungen, etwa, wenn er - zum Entsetzen des Rezensenten - schreibt, daß Doderer einen Abschnitt der Dämonen erzähle; und solches bei einem Roman, der ohne Berücksichtigung seiner diversen Erzähler, ohne genaue Unterscheidung etwa von Geyrenhoffs direktem oder indirektem Einfluß, in seiner Bedeutung schwerlich korrekt erfaßt werden kann. Doderer selbst steht als Autor hinter dem Werk, aber nicht als Erzähler in ihm. Ebenso unangenehm ist Lufts wiederholte Bezeichnung von Schriftstellern als ,Intellektuellen‘. Ihre Schaffensweise ist imaginativer Natur, und schließt ihre einigende Imaginationskraft den Intellekt auch nicht aus, so ist sie auf diesen doch nicht angewiesen. Die Antriebskräfte der Schriftsteller unterscheiden sich ihrer Natur und ihren Fundamenten entsprechend von jenen der Intellektuellen im üblichen Sinne; die Anwendung dieses Begriffs auf einen Schriftsteller impliziert ein Mißverstehen des ästhetischen Prozesses wie seines Produkts. Ein Schnellkurs anhand von Vorworten von Henry James würde Lufts Verständnis für Literatur sicher gut tun. In diesem Sinne schreiben Schriftsteller keine ,Texte‘ - das Telephonbuch ist ein ,Text‘ - vielmehr schaffen sie Werke in Strukturen wie Roman, Drama, Maskenspiel, Ballade, Epos oder anderen von Klang und Bild bestimmten künstlerischen Ausdrucksformen durch Gestaltung in eine stimmige Mimesis. Glücklich jene geistesgeschichtlichen Forscher, die wie Schorske glaubwürdig mit Entwicklungen und Begriffen jener Gebiete arbeiten, die sie behandeln. Seine Auseinandersetzung mit Schnitzler und Hofmannsthal gewinnt eine lebendige Beziehung zu umfassenderen Themen kulturellen Einblicks, eben weil er sie unter den ästhetischen und formalen Voraussetzungen ihrer schöpferischen Arbeit in Angriff nimmt. Doderer bemerkte einst, daß der „totale Roman“ eine Souveränität besitzt, die nur erworben werden kann, wenn der Romancier, der über Tennis schreibt, hinreichend glaubwürdig wie ein professioneller Tennisspieler klingt und damit die Experten täuscht. Ebenso wäre Lufts Werk um vieles überzeugender, hätte er nicht in den Leser abschreckender Weise einige Grundlagen literarischer Gestaltung und Schaffensweise übersehen.

Schorske ist hier das Vorbild, wie Janik, Toulmin und einige andere auch. Tatsächlich gibt es eine ansehnliche und ziemlich lange Liste von Büchern über die österreichische Identität, Kultur und Geschichte, die von englischsprachigen Schriftstellern verfaßt wurden, doch die oben genannten Autoren stellen wahre Meilensteine in der Forschung über Wien zwischen 1900 und etwa 1950 dar. Luft hat, wenn auch mit einigen Fehlern, ein ebenso provozierendes wie kenntnisreiches Buch vorgelegt, das unser Verständnis dafür vertieft, wie im Wien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Geschlecht, Sexualität und erotische Dynamik einen darunterliegenden Konflikt zwischen rationalen und irrationalen Kräften zum Ausdruck bringen. In der Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand ist es nicht schwer, ein paar Sätze von Freud und ein paar Zitate von Schnitzler - mit der üblichen Platitüde, wie ähnlich sie einander doch seien - herunterzuleiern, und so das Thema ein wenig zu banal abzuservieren. Luft dagegen eröffnet aus ungewöhnlichen Perspektiven erneut die Diskussion und bietet in diesem wertvollen Buch eine Fülle neuer Zusammenhänge und Einblicke.

Vincent Kling (übers. a. d. Amerikanischen v. Eugen Banauch)

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Erschienen in: Gassen und Landschaften: Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer. Würzburg 2004 (Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; 3), S. 474-480. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Copyright © Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2004.

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