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Linda Reiter: „Verprügelt mir nicht Jeden! Dafür aber die Richtigen saftig.“ - Heimito von Doderers Groteske Die Merowinger oder Die totale Familie: Eine Gewaltlektüre?

Linda Reiter: „Verprügelt mir nicht Jeden! Dafür aber die Richtigen saftig.“ - Heimito von Doderers Groteske Die Merowinger oder Die totale Familie: Eine Gewaltlektüre? (Phil. Mag. Otto-Friedrich-Universität Bamberg 2004)

Ob es um die Lösung familiärer Unstimmigkeiten, die Frage nach dem richtigen Umgang mit dem Dienstpersonal, die therapeutische Wirksamkeit hochkomplexer Apparaturen oder einfach um Sinn und Zweck unerklärlicher, aber alltäglicher Mißgeschicke geht - das Plädoyer für den unbekümmerten Umgang mit roher Gewalt umreißt mit wenigen Worten den Tenor in Heimito von Doderers Roman Die Merowinger oder Die totale Familie. Darstellungen von Gewalt sind jedoch keineswegs selten im Œuvre des Autors, sie finden sich in den großen Romanen ebenso wie in der Kurzprosa oder den Tagebuchaufzeichnungen.

Obwohl also Doderers Hang zum Abgründigen und Anrüchigen sich häufig in der direkten oder indirekten Beschreibung von Gewalt geäußert hat, wird sein 1962 erschienener Roman Die Merowinger dennoch oft als nicht repräsentativ für des Werk des Autors empfunden. Dies liegt indes nicht nur an der auffällig häufigen Gestaltung des Themas Gewalt, sondern vor allem auch an der Stilisierung des Textes zur Groteske. Doderer selbst erwähnte zu Beginn seiner Arbeit an den Merowingern das Groteske als eine Möglichkeit, zumindest in literarischer Form seine Phantasien ausleben und so kompensieren zu können (vgl. Commentarii 1951 - 1956, S. 35). Am Ende der mehr als zehnjährigen Schaffenszeit stand eine literarische Verbindung zahlreicher unverblümter Gewaltbeschreibungen mit dem Stilprinzip des Grotesken in Gestalt eines wüst anmutenden ,Familienunternehmens‘ des Protagonisten Childerich von Bartenbruch sowie einer aus sämtlichen Rudern laufenden pseudopsychologischen Therapie cholerischer Härtefälle. Daß diese Stilisierung von Gewalt zu einem offen als solchem benannten „,Mordsblödsinn‘“ ( Merowinger, S. 363) Leser nicht selten irritiert zurückläßt und daher eine Einordnung des Romans erschwert, ist freilich nicht verwunderlich.

Die von Prof. Dr. Hans-Peter Ecker betreute Arbeit versucht der ambivalenten Wirkung, welche die Merowinger durch Inhalt und Form beim Rezipienten erzeugen, auf der Grundlage des analytischen Potentials des Grotesken und seiner Gestaltungsprinzipien nachzugehen. Die zentrale Fragen dabei sind, ob die grotesk überbordenden Gewaltbeschreibungen in den Merowingern eine Bezeichnung des Romans als „Gewaltlektüre“ rechtfertigen können, und ob auf der Grundlage eines solchen Ansatzes der Sinn des Textes erschlossen werden kann.

Grundlage dieser Analysen ist ein Überblick über die bisherige Theoriegeschichte der literarischen Groteske, wobei der Schwerpunkt auf der 2001 erschienenen Monographie von Peter Fuß hingewiesen, welche die bisherigen Ansätze erweitert, indem sie dem Grotesken eine kulturkritische Funktion zuweist. Mit dem interdisziplinären Anspruch, den Fuß an das Groteske als ein Medium des kulturellen Wandels stellt, verweist er unter anderem auf die strukturelle Nähe des Grotesken zum Konzept der Dekonstruktion. Da beide Ansätze die Auflösung hierarchischer Strukturen und die Infragestellung dezidiert eindeutiger Aussagen zum Gegenstand haben, bietet sich eine dekonstruktivistische Lektüre grotesker Texte an.

Vor diesem theoretischen Hintergrund bietet die Arbeit zunächst eine inhaltliche Strukturanalyse des Merowinger- Romans hinsichtlich der Beschreibung von Gewalt in ihren unterschiedlichen Ausgestaltungen. Der Text wird dafür - um seiner komplexen Struktur zumindest teilweise Herr zu werden - in drei Handlungsblöcke unterteilt, in denen Gewalt je mit den Schlagworten Familie, Wissenschaft und Organisation in Verbindung steht. Der anschließende Überblick über die grotesken Gestaltungsprinzipien sowie deren Funktion und Wirkung stellt eine Synthese von Textarbeit und theoretischer Basis dar und liefert die Grundlage für die Schlußdiskussion. Bereits hier wird deutlich, daß die generelle Unbestimmtheit, die das Groteske beim Leser erzeugt und die eine eindeutige Bewertung des Textes verhindert, die Frage zuläßt, ob erzählte Gewalt als sinnstiftender Aspekt Textkohärenz herstellen kann.

Diese These gilt es vor einem zeichentheoretischen Hintergrund, der sich im wesentlichen auf die dekonstruktivistische Konzeption von Jacques Derrida beruft, zu diskutieren. Den Ausgangspunkt hierfür bietet Derridas These, daß ein Text nie eindeutig bestimm- und klassifizierbar ist, sondern vielmehr aufgrund unterschiedlicher Merkmale eine endlose Kette von Verweisen darstellt und somit immer wieder neu und anders interpretierbar ist. Ebenso wie das Groteske die Scheinhaftigkeit allgemeingültiger Urteile aufzudecken sucht - etwa indem sie Gewalt der Lächerlichkeit preisgibt - stellt auch die Dekonstruktion die klassischen Erkenntnisstrukturen in Frage.

Das Ergebnis der Diskussion soll - ganz im dekonstruktivistischen Sinne - nicht als endgültiges ,Urteil‘ gegen die Merowinger als eine Gewaltlektüre verstanden werden, sondern vielmehr als ein Spiel mit interpretatorischen Möglichkeiten eines Textes, der häufig selbst den Eindruck erweckt, ein Spiel zu sein.

Linda Reiter

Mail an die Autorin

Erschienen in: Gassen und Landschaften: Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer. Würzburg 2004 (Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; 3) , S. 504f. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Copyright © Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2004.
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