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Simon Kovacic: Die Textgenese des „Cahier rouge“ 1942/43 – Offenheit macht bunt |
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Simon Kovacic: Die Textgenese des „Cahier rouge“ 1942/43 - Offenheit macht bunt (Phil. Dipl. Universität Wien 2005). Heimito von Doderers „Cahier rouge 1942/43“ ist ein eher schlichtes Heft mit rotem Kartoneinband und mit auf eine heute seltene Art und Weise eng wie in einem Kassabuch karierten Blättern, die der kleinen Schrift des Autors fraglos entgegenkamen. Eine bearbeitete Fassung dieses Tagebuches ist unter der Bezeichnung „Auf den Wällen von Kursk, Rotes Heft, 1942/43“ in dem 1964 noch von Doderer selbst herausgegebenen Band Tangenten (S. 117 - 204) erschienen. Das Manuskript befindet sich heute in der Sammlung des Österreichischen Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek (Signatur: 130/W3 [Sammlung Emmanuel Wiemer]). Das „Cahier rouge“ hat eine längere Geschichte, und seine intensivste Zeit war sicherlich die, in der es von Doderer bearbeitet wurde, und zwar in den Jahren 1942 und 1943, zuerst in Rußland, später in Österreich. Wenn der Autor in ihm oder mit ihm arbeitete, dann schrieb er nicht nur vollständige Sätze und die dazugehörigen Satzzeichen hinein, sondern auch ein Fülle anderer Zeichen, die in den Tangenten nicht wiedergegeben sind: dicke Unterstreichungen, kleine Sterne, runde Kreise oder Randbemerkungen mit Rufzeichen und dergleichen. Abgesehen von den selbstverständlich vorhandenen, im übrigen aber marginalen Abweichungen der Druckfassung von der Handschrift auf der Wort- und Satzebene, teilt sie noch etwas anderes, Entscheidenderes nicht mit: ihre Entstehung. Das Besondere an dieser Handschrift ist, daß sie weder das Original eines veröffentlichten Romans, noch das eines gänzlich über Privates geführten Tagebuchs ist. Um sie richtig einzuschätzen, muß man sich ganz an die konkreten Produktionsbedingungen jener Jahre halten, weniger an die des Krieges, als an die Umstände, die sich Doderer in seinem Schreiben selbst geschaffen hatte. Das letzte Kapitel des Dämonen -Projekts lag zwei Jahre zurück; Doderer hatte einen Ausweg gesucht und ihn vorläufig in einer radikalen Revision seines bisherigen Schaffens gefunden, den „Däm[onen]-Epiloge[n]“, wie er sie etwa in einer Eintragung vom 11. Mai 1942 im „[Skizzenbuch] 26 (1941/II) [/] (1942) [/] (1943)“ (Ser. n. 14.130 d. ÖNB, fol. 11r) nennt. In ihnen stößt er auf eine der Hauptfiguren seines fiktionalen Personals, René Stangeler (und der Autor gewissermaßen über die Figur auf sich selbst), und es wird eine eigene Abhandlung nötig, die diese Figur endgültig in den Griff bekommen soll: der rote Faden des „Cahier rouge“. Die „Däm[onen]-Epiloge“ werden erst fortgeführt, nachdem diese Arbeit getan ist. Zwischenzeitlich entstehen Texte, in denen der Autor den Alsergrund für sich entdeckt, im sogenannten „Roten Notizbuch 1941/42“ (vgl. Tangenten, S. 101 - 116), aus dem er später die Passagen, die von E.P. erzählen, leicht verändert in die Strudlhofstiege übernehmen wird. Diese Passagen entwickeln sich aus einer Meditation über ein tiefes Seinsvertrauen, und möglicherweise wurde Doderer in diesem Umschlag ein Zugang zum Erzählen bewußter als bisher, ein Verhalten als Schreibender, das, mit großer Vorsicht durch Wiederholung eingeübt und professionalisiert, Erfolg versprach. Mit großer Vorsicht bedeutete auch, den Erfolg nicht als Abschluß anzusehen und die Analyse Stangelers durchzuführen. Im „Cahier rouge“ wiederum stößt Doderer auf „Das kahle Zimmer“, das er, zurückgekehrt nach Österreich, in einem so betitelten Text (vgl. Tangenten, S. 205 - 226) erforscht und darstellt, um danach die Analyse Stangelers im „Cahier rouge“ wiederaufzunehmen und abzuschließen, um dann endlich die letzten drei Kapitel des „Epilog[s] auf den Sektionsrat Geyrenhoff“ (vgl. Tangenten, S. 49 - 100) niederschreiben zu können. Das „Cahier rouge“ hatte also eine Aufgabe zu erfüllen, bevor noch der erste Satz niedergeschrieben war, und diese Aufgabe prägte den Schreibvorgang, seinen Wechsel von Analyse und Abschweifung in Essays, Epigrammen, Briefen und Zitaten. Diese Wechselhaftigkeit bringt auch eine für diese Handschrift charakteristische Anordnung der Texte auf den Seiten hervor und eben ein wiederkehrendes Repertoire an Einfügungs-, Verweis- und Trennungszeichen, die den Schreibvorgang in einer auch im Nachhinein überschaubaren Bahn halten. Besonders interessant sind jene Stellen, an denen der Text aus der ihm zugedachten Bahn ausbricht, und Doderer schmale Spalten einrichten muß oder notgedrungen weitere Notationen ans Ende des Heftes setzt. Methodisch orientiert sich diese von Prof. Dr. Wendelin Schmidt-Dengler betreute Diplomarbeit an der Textgenetik, insbesondere an Grésillons Einführung in die critique génétique und Hurlebuschs „Prolegomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens“. Ziel dieser Arbeit ist es, ein „genetisches Dossier“ zu erstellen, dies betrifft im Fall des „Cahier rouge“ eine Reihe von Notizbüchern und Supplementen der Notizbücher, einen Kalender aus der Kursker Zeit, ein weiteres Heft, in das die Analyse Stangelers ausweichen mußte, das „Repertorium existentiale“, und teilweise die Handschriften der in zeitlicher Umgebung entstandenen Texte, die bereits oben erwähnt wurden. Von größerem Interesse als die kritische Untersuchung der Streichungen und Spuren der Vorbereitung für den Druck Anfang der 60er Jahre ist daher die Funktion des „Cahier rouge“ vom Anfang der 40er Jahre. (Die letzten Korrekturen in den Druckfahnen betrafen im übrigen eher das öffentliche Bild, das Doderer und sein Lektor Horst Wiemer für vorteilhaft hielten.) Wer Lehrsätze Doderers wie „Schreiben ist die Entschleierung der Grammatik durch ein schlagartig einsetzendes Erinnern“ kennt, hat auch den Wunsch, zu wissen, was damit eigentlich gemeint ist. Ich meine, daß der Weg zu diesem Wissen von den programmatischen Aussagen weg und hin zu konkreten Tätigkeiten und Techniken führt, wie etwa dem Bogenschießen, der Meditation in der Badewanne, im Zugabteil, im Atelier und der anschließenden Skizzierung innerer Bilder in den Extremas oder der Entwicklung der Abbreviationes. Es wäre schön, wenn meine Arbeit neben der Dynamik auch etwas von der Offenheit und Weiträumigkeit des Schreibprozesses in den Tagebüchern einfangen könnte, die über die im Druck dicht und kryptisch erscheinenden Texte Doderers nur schwer zu erschließen sind. Simon Kovacic Mail an den Autor
Erschienen in: Gassen und Landschaften: Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer. Würzburg 2004 (Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; 3) , S. 501f. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages. Copyright © Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2004. Dieses Exposé ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar.
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