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Lin Cecilie Horge Walle: Verborgene Muster im textuellen Gewebe.

Lin Cecilie Horge Walle: Verborgene Muster im textuellen Gewebe. Die Metapher und ihre Übersetzung am Beispiel von Heimito von Doderers Die Strudlhofstiege (Phil. Diss. im Entstehen, Universität Oslo).

Gegenstand dieser Untersuchung ist die Funktion von Metaphern in literarischen Texten und die Bedeutung (bzw. Auswirkung) ihrer dynamischen Interaktion in bezug auf die Interpretation und Übersetzung solcher Texte. Die von Prof. Dr. Cathrine Fabricius-Hansen und Prof. Dr. Elsbeth Wessel betreute Arbeit basiert auf einen interdisziplinären Ansatz und verbindet Erkenntnisse aus Sprach- und Literaturwissenschaft, Geschichte und Kulturkunde.

Im Gegensatz zur traditionellen Auffassung der Metapher als bloßer Zierde des Textes sieht die moderne Kognitive Psychologie (etwa vertreten durch George Lakoff und Mark Johnson) die Metapher vielmehr als außergewöhnlich dynamische Einheit an, die in allen sprachlichen Zusammenhängen auftritt und die eine aktive Rolle bei unserer Perzeption und Konzeptualisierung der Welt spielt. Dies deshalb, weil durch metaphorische Interaktion Aspekte eines Begriffes B (des sogenannten Bildes oder der source domain der Metapher) gezielt auf den Begriff A (das Objekt oder deren target domain ) übertragen werden ( mapping ), so daß dem Begriff A bestimmte Eigenschaften von B bzw. überhaupt eine neue Bedeutung zugeordnet wird. Dank ihrer elliptischen Form ermöglichen es Metaphern auf diese Weise, zahlreiche Informationen vermittels weniger Zeichen hervorzurufen und Verbindungen zwischen normalerweise nicht kompatiblen Begriffen herzustellen. Sie sind daher einerseits ein sehr effektives Mittel, Erfahrungen zu strukturieren und Informationen konzise zu kommunizieren bzw. sich ihrer zu erinnern, andererseits generieren sie neues Wissen und neue ,Wahrheiten‘, wobei sie auch die Sichtweise eines Sachverhalts beeinflussen.

Diese gezielte Übertragung von bestimmten Aspekten wird möglich, indem die Kognitive Psychologie Begriffe nicht als Lexeme mit fixierter Bedeutung ansieht, sondern als flexible, holistische Gestalten mit Bedeutungspotentialen. Da wir unsere Umwelt sowohl nach sprachlichen wie nach visuellen Stimuli kategorisieren, umfassen (erlernte wie direkt erfahrene) Begriffe bedeutungskonstitutive Elemente aller Art, die auch als visuelle Vorstellungen repräsentiert sind. Diese sind nach prototypischem Muster mit festem Kern und verschwommenen Rändern strukturiert; die potentielle Bedeutung wird dann jeweils von der kommunikativen Situation und dem Kontext im weiten Sinne festgelegt, da diese jeweils unterschiedliche Elemente bzw. Vorstellungen hervorrufen. Gleichzeitig werden Verbindungen zwischen Begriffen ermöglicht, indem diese durch ihr linguistisches oder bildliches Material Beziehungen etablieren und in größere Konzepte eingehen können.

Um diese kognitiven Prozesse darzustellen, unterscheidet Charles J. Fillmore in seinem Modell zur Textrezeption zwischen linguistischen Informationen ( frames ) und den sie begleitenden und ergänzenden visuellen Vorstellungen (scenes) , die einander gegenseitig hervorrufen. Die jeweiligen scenes und frames können im Textverlauf auch in andere scenes und frames von unterschiedlicher Größe und Komplexität eingebettet werden, wobei sich nicht nur die textuelle Struktur, sondern zugleich auch distinkte Bildfelder entwickeln. Hier spielen vor allem die Metaphern eine zentrale Rolle, indem sie in einem gegebenen Text häufig sogenannte Metaphernketten oder metaphorische Häufungen bilden, die sich wiederum durch gemeinsames bildliches Material gegenseitig verstärken und distinkte, größere scenes etablieren, die dann in andere scenes eingehen und sie noch weiter ausbauen oder dynamische Gegensätze zu ihnen hervorbringen können. Auf diese Weise entsteht parallel zur Handlungsebene eine Bildebene, welche die Handlung visualisiert, sie ergänzt und unterstützt oder ihr gegebenenfalls widerspricht und kontrastiert; durch diese ,Bildregie‘ wird dann auch die Textinterpretation in eine bestimmte Richtung gelenkt.

Die Funktion der Metaphern - auch in literarischen Texten - ist also weit umfassender als früher angenommen. Eine Metapher darf also selten auf mikrotextueller Ebene allein interpretiert werden, sondern muß stets - ganz im Sinne Doderers - als Teil eines Ganzen gesehen werden. Dies gilt nicht zuletzt auch für ihre Übersetzung. Hier ist das Problem jedoch, daß die Metaphern aufgrund wegen ihrer ursprünglichen Verwurzelung in einer anderen Kulturgemeinschaft jeweils unterschiedliche scenes, das heißt Assoziationen und Bilder hervorrufen können, da sie einer anderen Bildtradition unterliegen und / oder weil ihr Stellenwert unterschiedlich eingestuft wird. Dies gilt auch, wenn lexikalisch äquivalente Begriffe in eine Metapher eingehen, was eine reine frame-frame -Aktivierung wäre, welche die jeweils zugrundeliegende scene in der Ausgangssprache und eventuelle Diskrepanzen in der Zielsprache nicht berücksichtigt und zu Verschiebungen in der bildlichen Kohärenz und ebenso in der Textrezeption führen könnte. Daher sieht Fillmore nicht die Lexeme und das sprachliche Material - bzw. die frames an sich - als tertium comparationis an, sondern vielmehr die jeweiligen scenes, die in der Zielsprache wieder aufgebaut werden sollten - wenn möglich mit den gleichen linguistischen Mitteln.

Die komplexe Problemstellung bei der Übersetzung von Metaphern wird in dieser Arbeit am Beispiel von Heimito von Doderers Roman Die Strudlhofstiege dargestellt, da Metaphern eine zentrale und besonders starke Position im Werk des Autors einnehmen. Passend zu seiner Wirklichkeitsauffassung wie zu seiner Erzähltheorie bevorzugt Doderer die „Metapher“, die er als „Platzhalter des Indirekten in der Sprache“ ( Tangenten, S. 260) begreift, gegenüber einer „direkten“ sprachlichen Vermittlung. Jene gilt ihm lediglich als Mittel zum bloßen Transfer bereits fertiger Gedanken und mithin als unschöpferisches Verfahren. In seiner Sicht geht die Metapher der direkten Bedeutung (auch zeitlich) voraus, die nur einen Ausschnitt der Bedeutung auszudrücken vermag; Metaphern sind für ihn „Heimholungen eines Begriffs zu seinem ganzen Umfang“ (ebd., S. 311) und damit vor allem auch ein Mittel, die Welt zu erfassen.

Doderer verwendet Metaphern demnach als genaue sprachliche Definitionen und setzt diese teils auch als vereinheitlichende Elemente in seinen literarischen Kompositionen ein, um unter der Textoberfläche Verbindungen zwischen den einzelnen Episoden und Schicksalen herzustellen und so dem scheinbaren Chaos der dargestellten Lebensfülle unterschwellig eine Ordnung zu geben. Damit tragen die Metaphern zur Konstanz der Motivik bei, die die einzelnen Teile sowohl miteinander als auch im Ganzen verbindet. Die Konstanz der Motivik in Form von distinkten scenes spielt jedoch gleichzeitig, indem sie diese stabilisiert, eine bedeutende Rolle bei der Figurengestaltung. Doderers metaphorisches System in der Strudlhofstiege wird von besonderen Schlüsselmetaphern getragen wie etwa der Glas-Fluß -Metapher, der Bahn - und der Trennwand -Metapher. Bei Analyse einiger den Figuren Melzer, Mary K. und Negria zugeordneter Metaphern nach Muster von Fillmores scenes-and-frames -Modell zeigte sich indes eine Vielzahl weiterer Bildfelder um die Figuren, die fast als metaphorische Muster erschienen und ihre Charaktere auf distinkte Weise definierten (vgl. Lin Cecilie Horge Walle: Scenes-and-frames aus Die Strudlhofstiege oder Die Metapher und die Tiefe des Textes. Phil. Lic. Oslo 2001).

Zahlreiche Metaphern entstammen etwa dem militärischen Bereich und zeigen - unter anderem - Melzers Menschwerdung als mühsamen Kampf um seine Existenz. Im Zivilleben wie als Offizier wird er, selbst passiv bleibend, „geschoben“ von außen liegenden „gewaltigen Kräften“ ( Strudlhofstiege, S. 65), er ,ringt‘ mit „übermächtigen Eindrücken“ (ebd., S. 72), weicht aber schließlich vor allem zurück, was er nicht versteht. Dies gilt nicht zuletzt für Mary K.: sein „Lagern und Beobachten“ (ebd., S. 64) endet mit einem „Rückzug“ (ebd., S, 12). Erst als er sich ihr im „Hauptgefecht“ (ebd., S. 845) seines Lebens stellt, gelingt es ihm, sich selbst aus seiner selbst gewählten Gefangenschaft zu befreien. Auch Mary lebt hinter selbst errichteten „unsichtbaren Mauern“ (ebd., S. 11) ehelicher Ordnung und Disziplin. Das Leben selbst, die „gespannt wartende Dämonie der ruhenden Umgebung“ (ebd., S. 22) steht bereit und greift sie schließlich mittels einer Straßenbahn an, um sie zu befreien. Daneben ist Mary den Eroberungsversuchen Negrias ausgesetzt, der sich, im Gegensatz zu Melzer, stets „in Vormarsch und Offensive“ (ebd., S. 14) befindet, und als „Interventionist“ bei Mary „zum Durchbruche“ (ebd., S. 11) gelangen möchte.

Die jeweiligen scenes, die so um die einzelnen Personen entstehen, sind also keineswegs isolierte und statische Bildfelder, sie interagieren zugleich auf makrotextueller Ebene und tragen zur Veranschaulichung der Beziehungen zwischen den Figuren bei. Durch den Roman ziehen sich mehrere dieser komplexen Bildmuster; wenn nun die Metaphern nicht gemäß ihrer Funktion im Gesamtgefüge übersetzt werden, besteht die Gefahr, daß dem textuellen Gewebe andere Muster aufgezwungen oder daß jene der Ausgangssprache schlicht zerstört werden. Die bildliche Kohärenz und die sorgfältig aufgebauten intratextuellen Zusammenhänge können dadurch freilich verlorengehen.

Ziel dieser Arbeit ist es daher, das Zusammenwirken der Metaphern zu Bildfeldern und scenes darstellen und untersuchen, wie umfassend die metaphorische Interaktion ist, wie sie die Textinterpretation beeinflußt, und schließlich ob und wie sich solche - oft verborgenen - metaphorischen Muster in der Übersetzung bewahren lassen. Grundlage hierfür ist eine exemplarische Analyse von zentralen Metaphern um Melzer, Mary K. und Negria in der Strudlhofstiege, die wiederum auch als Ausgangspunkt für eine geplante eigene Übersetzung des Romans ins Norwegische dienen wird. Es ist meine Hoffnung, mit dieser Arbeit einen wichtigen Beitrag zu Theorie und Praxis der literarischen Übersetzung im allgemeinen zu leisten, aber auch zur Einsicht in das Mittel der Metapher und dessen Funktion in literarischen Texten beitragen zu können.

Lin Cecilie Horge Walle

Mail an die Autorin

Erschienen in: Gassen und Landschaften: Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer. Würzburg 2004 (Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; 3) , S. 497ff. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Copyright © Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2004.
Alle Rechte vorbehalten.

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