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Éric Chevrel: Les romans de Heimito von Doderer: l'ordre des choses, du temps et de la langue

Éric Chevrel: Les romans de Heimito von Doderer: l'ordre des choses, du temps et de la langue ( Phil. Diss. Université de Paris 4 1998).

Diese (voraussichtlich 2004 bei Peter Lang in der Reihe Contacts erscheinende) Studie ist die überarbeitete Fassung einer von Prof. Dr. Jean-Marie Valentin betreuten Dissertation, die 1998 an der Universität Paris 4 verteidigt wurde. Ihr Ziel ist es, Hauptelemente und Entwicklungslinien von Doderers Romanästhetik darzulegen. Dabei bemüht sie sich um eine Herausarbeitung von vier Modellen (Geschichte, Politik, Polizei und Justiz sowie Sprache), anhand derer sich das jeweilige Verhältnis zwischen der Wirklichkeitsdarstellung ( Dinge), der Hauptdimension des Erzählens (Zeit) sowie dessen Material (Sprache) artikulieren läßt.

Mit diesen Modellen sollen Grundtendenzen im Schreiben Doderers dargestellt werden, die im Verlauf seiner literarischen Entwicklung sowohl aufeinander folgen als auch simultan vorhanden sein können. Es handelt sich dabei um verschiedene Strategien zur Vermittlung bzw. Annäherung zwischen den beiden Größen „Wahrheit“ und „Ausdruck“, die für den Autor schon in den frühen 20er Jahren zentrale Bedeutung gewonnen hatten. Primäre Textgrundlage der Untersuchung sind die vier späteren Romane Die Strudlhofstiege, Die Dämonen, Die Wasserfälle von Slunj und Der Grenzwald, deren Fülle und Komplexität sich am besten für die Analyse eignen; es wurden jedoch, unter anderem um die Entstehung der jeweiligen Modelle nachzuzeichnen, auch weitere Romane Doderers ausgewertet.

Den Ausgangspunkt der Analyse bilden stets die fiktionalen Texte Doderers, zur Ergänzung bzw. Kontrastierung werden seine Selbstzeugnisse in den Tagebüchern herangezogen und zugleich kritisch hinterfragt. Das Hauptaugenmerk dieser durchaus traditionellen Methoden verpflichteten Untersuchung gilt dabei Textstrukturen, Erzählverfahren und sprachlichen Details.

Einen ersten Einblick in Doderers Auffassung von der Natur und den Zielen des Romanciers liefert eine terminologische Untersuchung der jeweiligen Bezeichnungen (von „Verfasser“ bis „Schriftsteller“), die er vor allem in den Tagebüchern für seine literarische Tätigkeit benutzt, und denen jeweils ein Spektrum an mit ihnen verbundenen Eigenschaften zugeordnet ist. Seine unablässige, wenn auch begrifflich nicht immer konsequente Definitionsarbeit zeugt von seiner ständigen Unsicherheit bezüglich der eigenen Leistung und Position und entspricht der wiederholten Suche nach angemessenen Vorbildern, an denen sich das Ideal des Gleichgewichts zwischen Sprache und Welt orientieren soll. Diese Aufstellung von Definitionen und die Selbstbeschwörung, ihnen zu entsprechen, zeigt, wie sehr es Doderer beim Schriftstellerwerden und -bleiben um Existentielles geht; ansonsten eher als technisch angesehene Kategorien wie Figur und Autor haben bei ihm demzufolge ontologischen Wert.

In ähnlicher Weise füllt Doderer gängige erzähltheoretische Kategorien wie Zeit, Standpunkt, Wissen des Erzählers mit einem eigenen theoretischen Gehalt, so daß das im Roman thematisierte Erzählen, wenn es aus der (für ihn) ,richtigen‘ zeitlichen und räumlichen Distanz erfolgt, den vereinfachenden ideologischen Diskursen entgegengesetzt wird. Dieser Anspruch auf Wahrheit und Vollständigkeit wird aber gleichzeitig durch das Bewußtsein der jedem Erzählen innewohnenden Unzuverlässigkeit relativiert. Typisch für Doderers Romane ist insofern die Verschränkung von Kontrolle und Ungewißheit: Das Bemühen um eine rekonstruierbare Kette der Informationsvermittlung, von den Figuren bis zum Autor über eine Informantengestalt in der Strudlhofstiege kontrastiert mit der inszenierten Unzuverlässigkeit und dem Gewirr der Erzählstimmen in den Dämonen, während mit der Wiedergabe desselben Geschehens aus mehreren Perspektiven im Grenzwald die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Deutung von neuem aufgeworfen wird.

Das chronologisch erste Modell in Doderers Werk steht unter dem Zeichen der Geschichte, der er, unter Einfluß seines Studiums, die Forderung nach technisch genauer Verankerung der dargestellten Handlungen in Zeit und Raum verdankt, aber auch nach Einbettung in größere Zusammenhänge und nach einer vorurteilslosen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Diese wirkt noch in den 50er Jahren nach, als Doderer Rankes Maxime für die Geschichtsschreibung ( „wie es eigentlich gewesen“) für das Erzählen im Roman adaptiert. Die Geschichtswissenschaft bietet aber nicht nur bei der Entstehung der Romane eine technische Richtschnur, sondern wird auch als Thema in die Romanhandlung eingebracht, durch Historikergestalten, deren Diskurse für andere Figuren eine therapeutische Funktion erfüllen. Schließlich wird der Nutzen der Historie fürs Leben anhand einer Gegenüberstellung von Leonhard Kakabsa in den Dämonen und Heinrich Zienhammer im Grenzwald gezeigt.

Das politische Modell kann man als eine Verlängerung des geschichtlichen betrachten, aber auch als dessen Pervertierung, dies insofern als Doderer mit dem antisemitischen Projekt der „Dämonen der Ostmark“ die Absicht verfolgte, Geschichte nicht länger bloß zu beschreiben, sondern in sie einzugreifen. Der Tendenzroman soll in Umkehrung der Dodererschen Grundsätze die Wirklichkeit nicht mehr nur (an)erkennen, sondern vorwegnehmen, ja vorschreiben. Die Analyse von Doderers Engagement für den Nationalsozialismus behandelt die persönlichen und generationsspezifischen Faktoren sowie seine beschönigende Selbstdeutung in der unmittelbaren Nachkriegszeit, bevor antisemitische Spuren unter veränderten Vorzeichen auch im Spätwerk nachgewiesen werden.

Das polizeiliche Modell kommt mit dem Kriminalroman Ein Mord den jeder begeht zum Vorschein und läßt sich zunächst als eine Reaktion auf die Verirrung in die hochtrabenden und schließlich gescheiterten Pläne des politischen Modells begreifen: Doderer wendet sich einer ästhetisch anspruchsloseren Form zu, die für ihn auch eine therapeutische Bedeutung erhält. Doch ist dieses Interesse an Verbrechen und Aufklärung nicht punktuell, denn vom Geheimnis des Reichs bis hin zum Grenzwald weisen Doderers Romane immer wieder Kriminalhandlungen auf, die nicht nur dem Aufbau von Spannung dienen, sondern auch seine poetologischen Ansichten zur Funktion der Literatur als Korrektiv untermauern und veranschaulichen. Die Kriminalisierung aller Ideologien erweist sich so in den Dämonen als ein Mittel zu ihrer Bekämpfung, was jedoch auch zu einer Verzeichnung der historischen Ereignisse führt. Das Polizei-Modell wird durch die Ansätze eines Justiz-Modells insofern erweitert, als die Richterfiguren in den Wasserfällen von Slunj und dann vor allem im Grenzwald allmählich zu Stellvertretern des Autors im Roman aufsteigen.

Das sprachliche Modell läßt sich viel weniger als die anderen auf einen bestimmten Zeitraum festlegen, es überwölbt sie vielmehr und durchzieht die gesamte Romanproduktion ebenso wie die Tagebuchreflexionen. Mit dem geschichtlichen wie dem politischen sowie dem polizeilichen und richterlichen Modell versucht Doderer vor allem, sich der Wirklichkeit und deren „Wahrheit“ zu vergewissern, muß aber immer wieder feststellen, daß der „ Ausdruck“ zu kurz kommt. Folglich schenkt Doderer in allen Romanen dem Verhältnis der Figuren zur Sprache besondere Aufmerksamkeit. Zugleich zeigt er eine Vorliebe für die Darstellung sprachlicher Pathologien: Konformismus, Ansteckung und Besessenheit durch die Reden anderer, Obsessionen durch das Buch, Verstümmelung und Verfälschung durch die Politik. Demgegenüber stehen die viel selteneren glücklichen Fälle einer vollen Entsprechung zwischen Welt und Sprache - die ungetrübte oder wiederhergestellte semantische Beziehung zwischen Ding und Wort liefert immer wieder, allerdings oft erst indirekt durch die negativen Folgen gegensätzlicher Beispiele, den Maßstab für den erstrebten Zustand der Einheit der Welt. Doderer teilt zwar die von Zeitgenossen wie Musil oder Broch gestellte Diagnose der Zersplitterung der Welt, aber seine Romanpoetik versteht sich eben als eine Antwort auf die vermeintliche Unentrinnbarkeit aus der Fragmentierung der Moderne, denn für ihn ist es dem Roman gegeben, Kontinuitäten nachzuspüren bzw. aufzudecken. Doch jener Eindruck einer beziehungsreichen und daher homogenen, geordneten Romanwelt, in der alles mit allem vernetzt ist, entsteht vor allem dadurch, daß Doderer Handlungen und Charaktere mit sprachkünstlerischen Mitteln beschreibt. Indem er nun die Leser die Welt durch eine sprachliche Brille wahrnehmen läßt, leistet er der Annäherung zwischen Sprache und Welt zwar Vorschub, doch erreicht er diese postulierte Einheit gleichwohl erst durch Unterlegung einer Gewebe- und Netzmetaphorik und eine entschiedene Versprachlichung der Welt.

Éric Chevrel

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Erschienen in: Gassen und Landschaften: Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer. Würzburg 2004 (Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; 3) , S. 494ff. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Copyright © Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2004.
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