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Harald Miesbacher: Die Anatomie des Schwabischen.

Harald Miesbacher: Die Anatomie des Schwabischen. Werner Schwabs Dramensprache. Graz u. Wien: Droschl 2003. 272 S., Broschur, EUR 31,-

Als der Grazer Dramatiker Werner Schwab in der Silvesternacht 1993 starb, war er nicht nur der angeblich gerade meistgespielte Bühnenautor des deutschsprachigen Raums, sondern hatte mit dem hohen Tempo seiner Produktion eine angemessene literaturwissenschaftliche Rezeption seiner Texte längst weit hinter sich gelassen. Der vorliegende fünfte Extraband aus der Dossier-Reihe des Grazer Literaturverlags Droschl über österreichische Autoren widmet sich der Dramensprache des Autors.

Gerade die spezifische sprachliche Gestaltung charakterisiert ja die Stücke des Dramatikers (oder: ist das Markenzeichen des Popautors) Schwab, und die hier vorgelegte, erste umfängliche Analyse des Schwabischen darf daher als großer Schritt für die Forschung gelten.

Die Arbeit gliedert sich in vier Teile. Ein erster Part („Die Geburt des Schwabischen“, S. 13 - 51) bietet eine Revue der Theaterkritiken, die den steilen Aufstieg Werner Schwabs zu Beginn der 1990er Jahre begleiteten, dokumentierten und auch mitbestimmten. Neben manchen Fehleinschätzungen, die sich aus der Retrospektive naturgemäß als kurios ausnehmen (etwa die Aktennotiz eines Dramaturgen des Wiener Burgtheaters über ein vom damals noch unbekannten Autor eingesandtes Manuskript: „Durch mangelndes Sprachvermögen des Autors vieles unfreiwillig komisch“, S. 17), zeigt sich hier in erster Linie eines: Schon früh konzentrierte sich die Theaterkritik vor allem auf die Sprache des Autors und erkannte sie als das eigentlich Besondere seines Werks. (Der Begriff des „Schwabischen“ wurde übrigens vom Theater heute-Redakteur Michael Merschmeier in einem im März 1991 publizierten Porträt geprägt und bald von anderen Kritikern und später auch von der Forschung übernommen.) Darauf will der Verfasser hier auch hinaus, und das Vorführen verschiedener erster Beschreibungsversuche des Schwabischen von seiten der Kritikerzunft dient ihm vor allem dazu, den Leser an den Gegenstand seiner Untersuchung heranzuführen.

Der zweite Teil des Werks („Analysen des Schwabischen“, S. 53 - 85) referiert kurz die einschlägige literaturwissenschaftliche Forschung. Da sich Miesbacher hier a priori nicht auf den thematischen Schwerpunkt seines eigenen Bandes beschränkt, ist diese Darstellung für einen ersten Überblick zum aktuellen Forschungsstand auch abseits des spezifischen Themas hilfreich (freilich ist bislang sowohl diesseits als auch jenseits dieser Themengrenze alles noch ziemlich beschaulich).

Nach den beiden hinführenden Teilen trägt der dritte und umfänglichste Part dann („Die Anatomie des Schwabischen“, S. 87 - 239) denselben Titel wie der Gesamtband und repräsentiert demgemäß den Kern der Darstellung. Er gliedert sich in 23 Abschnitte, in welchen jeweils eine Auffälligkeit des Schwabischen zur Darstellung gelangt, die vom Autor so genannten Schwabismen. Sie sind der Reihe nach wie folgt überschrieben: „Schwabscher Gebrauch der Modalverben“, „Schwabsche Präfix- und Verbzusatzbildungen“, „Zum Gebrauch des Passivs“, „‚Entichtes‘ bzw. distanziertes Sprechen oder Schwabsche Ich-Synonyme“, „Dominanz bzw. Personifizierung der Dinge und Wesenheiten“, „Schwabscher Artikelgebrauch“, „Zum Gebrauch der Possesivpronomina“, „Schwabsche Nominalisierungen“, „Amtssprachliche Rede“, „Schwabsche Komposita“, „Schwabsche Pleonasmen“, „Schwabsche Euphemismen“, „Formen der unbeholfenen Rede“, „Schwabsche ‚Kausalität‘“, „Schwabsche Metaphorik und Tropen“, „Schwabsche Vergleiche“, „Tautologische und redundante Rede“, „Schwabsche Phraseologie“, „Verformung von Redensarten, Sprichwörtern, idiomatischen Wendungen“, „Schwabsches Wortspiel“, „Schwabsche Lautmalerei bzw. Rede- und Klangfiguren“, „Schwabsches Fäkal- bzw. Sexuallexikon“ und „Das Eskalationsprinzip“.

Wie unschwer zu erkennen ist, rekurriert die vom Verfasser unternommene Kategorisierung auf verschiedene Beschreibungssysteme: vorwiegend auf Grammatik, Stilistik und Rhetorik, dann aber auch auf dramaturgische Kriterien sowie Phänomene, welche die metaphysische oder logische Weltsicht der Figuren betreffen und ihren sprachlichen Niederschlag in deren Rede finden. Was so vielleicht als Mangel an Systematik anmuten mag, ist freilich von der Komplexität des Gegenstands vorgegeben, ebenso wie sich die immer wieder erfolgenden Querverweise zwischen den Abschnitten als schlechthin notwendig erweisen, sooft verschiedene Phänomene gemeinsam aufzutreten pflegen oder einander bedingen. (So ist beispielsweise Schwabs Neigung zum oft kontra-idiomatischen Einsatz von Nominalisierungen auch eines der wesentlichen Merkmale der Amtssprachlichkeit, die die Rede seiner Figuren bisweilen kennzeichnet.)

Nichtsdestotrotz sind die Kategorien selber mitunter unglücklich gewählt, was insbesondere beim 20. Abschnitt („Schwabsches Wortspiel“, S. 186 - 195) augenfällig wird: ließen sich doch so gut wie alle Schwabismen jederzeit als Wortspiele klassifizieren (im übrigen ohne daß damit der Spracharbeit des Autors eine kritische Intention abgesprochen würde). Zudem ist zu kritisieren, daß sich die gewählten Überschriften teilweise unzureichend mit den tatsächlich behandelten Gegenständen decken. Im zehnten Abschnitt beispielsweise („Schwabsche Komposita“, S. 129 - 135) behandelt der Verfasser realiter bloß einen Absatz lang Komposita. Die nachfolgenden fünf Seiten befassen sich vorwiegend mit seltsamen Attribuierungen (etwa: „heimliche[r] Schnaps“ oder „geschlechtliche Hose“; daß „stierige Kuh“ ein Oxymoron sei, ist übrigens einer der wenigen eindeutigen Irrtümer, die dem Verfasser unterlaufen) und neologistischen Adjektiven und Adverbien; nur nebenbei kommt Miesbacher hier noch auf die in der Überschrift angekündigten Komposita zurück.

Als Vergleichshorizont für die Analyse der schwabischen Besonderheiten hält unausgesprochen die deutsche Normsprache her. Nicht nur einmal wird darauf verwiesen, daß Schwabismen systematisch gegen die hochdeutsche Norm verstoßen, dabei aber offenbar Devianzen süddeutsch-österreichischer Dialekte aufnehmen. Ein Beispiel wäre der Gebrauch des unbestimmten Artikels: „[E]ine jede Küche [läßt mich] immer in einer Ruhe“ (S. 120). Miesbacher übersieht hier jedoch leider, daß solcherlei Artikelgebrauch durchaus keine „Entsprechung“ (S. 122) in der österreichischen Mundart hat, wie er schreibt, sondern eindeutig unidiomatisch ist: Mundartlich wäre zwar etwa „Eine Ruh ist jetzt“ gebräuchlich, die zitierte Schwab-Passage verstößt aber selbst gegen die dialektale Regularität und entfremdet diesen Sprachgebrauch bereits.

Ganz ähnliches zeigt sich auch im fünften Abschnitt („Dominanz bzw. Personifizierung der Dinge und Wesenheiten“, S. 114 - 119), wenn es am Ende der Beobachtungen heißt: „Dennoch, so muß festgehalten werden, wohnt aber auch schon der Normsprache selbst eine ausgeprägte Neigung inne, Wesenheiten, Gemütslagen etc. zu verdinglichen.“ (S. 119) Was sich hier als Einschränkung eines konstatierten Schwabismus ausnimmt, wäre gerade als dessen Ausgangspunkt anzusehen: Der Dramatiker Schwab läßt es ja eben nicht bei alltagssprachlichen Hypostasen bewenden („Der Zorn hat ihn übermannt“), sondern geht - offenbar karikierend - weit darüber hinaus, wenn er etwa schreibt: „Jetzt kommt der Genuß auch in deine Wohnung“ (S. 117) oder: „Wir sind von der Menschlichkeit aus dem Boden gerissen worden“ (S. 118). Werner Schwabs Arbeit erweist sich so vielfach als kreativer als es Miesbachers Befund wahrnimmt.

Die global angelegte Behandlung Schwab-typischer Phänomene - quer durch seine sämtlichen Dramentexte - bringt mit sich, daß die Wirkung und Rolle der verschiedenen Schwabismen (auch in ihrem Zusammenspiel) innerhalb des einzelnen Dramas als Textganzem oft unerschlossen bleibt. Das ist keineswegs als Mangel der vorliegenden Arbeit zu verstehen, ist das doch der Preis einer Darstellung, die zum Untersuchungsgegenstand ein Gesamtwerk und nicht einen einzelnen literarischen Text hat. Was die Wirkung des einzelnen Zitats anbelangt, pflegt der Verfasser dankenswerterweise den allenfalls nötigen Kontext seiner Textbelege mitzuliefern. Das schafft jedoch nur begrenzt Abhilfe.

Einzig im 21. Abschnitt („Schwabsche Lautmalerei bzw. Rede- und Klangfiguren“, S. 195 - 198) hat es der Verfasser bedauerlicherweise gänzlich unterlassen, Hinweise auf die Wirkungsrichtung der erörterten Phänomene zu geben: „In auffälliger Weise nutzt Schwab noch die klanglichen, rhythmischen, zum Teil auch lautmalerischen Möglichkeiten der Sprache“, heißt es; wozu er sie nützt, erhellt die Analyse nicht.

Der vierte und letzte Teil des Bandes („Das Schwabische - Zwischen Dekonstruktion und Rekonstruktion“, S. 241 - 258) gibt abschließend noch einige Hinweise auf die sprachtheoretische Position Werner Schwabs und seine Stellung in bezug auf die österreichische Literaturtradition. Versucht wird auch eine Beschreibung der schwabischen Figurenkonzeption hinsichtlich des sich abzeichnenden Verhältnisses zwischen Subjekt und Sprache. Der Verfasser geht der Frage nach, wie es um das Verhältnis Schwabs zur Sprache bestellt ist und welcher Impetus seiner Spracharbeit innewohnt. Gerade hier tut sich, wie Miesbacher bereits in der Einleitung bemerkt, ein „einigermaßen weites wissenschaftliches Untersuchungsfeld auf“ (S. 12) - dessen Bearbeitung freilich im Rahmen dieses Buches nicht erschöpfend geleistet werden konnte.

Die Stärke der von Miesbacher ausgebreiteten „Anatomie des Schwabischen“ liegt so in summa vor allem in der Fülle des von ihm zusammengetragenen Belegmaterials. Die für die Sprache des Autors typischen Kennzeichen sind hiermit benannt, beschrieben und ausführlich belegt. Das allein ist schon sehr viel und vor allem eine ausgezeichnete Grundlage für künftige, detailliertere Arbeiten, die sich spezifisch einem der aufgeführten Schwabismen zuwenden wollen oder auch einem konkreten Dramentext. Eine Verortung hinsichtlich der Tendenzen des Gesamtwerks liegt dann bereits vor. Miesbachers Abhandlung wird sich so zweifellos als unentbehrliche Arbeitsgrundlage für die weitere einschlägige wissenschaftliche Forschung erweisen.

Stefan Winterstein

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Copyright © Stefan Winterstein, Wien 2005.
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