Henner Löffler: Doderer-ABC: Ein
Lexikon für Heimitisten. München: C. H. Beck
2000. [München: dtv 2001.] 478 S., gebunden,
EUR 34,90 / SFr 62,- [Broschur, EUR 19,50 / SFr
34,50]
Der Kölner Privatgelehrte und Mäzen Henner
Löffler hat mit seinem Doderer-ABC ein "Lexikon
für Heimitisten" vorgelegt, einen Reiseführer noch
in die entlegensten Provinzen der Doderer-Welt, der sich
zwar als "Einführung für Anfänger und
Fortgeschrittene" präsentiert, in seinem
gesamtanalytischen und interpretatorischen Sinn aber
durchaus als Grundstein zu einer Theorie der Prosa Doderers
verstanden werden möchte. Das Ergebnis sind 100 Hieb-
und Stichworte, die mit großer Freude ihre Sprache der
Eigentümlichkeit des Gegenstandes anpassen. Und gehauen
und gestochen wird bei Doderer sehr viel, nicht jedoch auf
den Prachtstraßen seiner voluminösen Wiener
Gesellschaftsromane, sondern - wie das in großen
Städten eben so üblich ist - in den schmaleren
Gäßchen und auf den Nebenwegen der unbekannteren
Romane, wohin man sich meist erst bei einem zweiten und
dritten Aufenthalt verirrt.
"Der Schriftsteller ist ein ekelhafter Kerrrl", bekannte
Doderer in einem Radiointerview und dachte dabei wohl nicht
zuletzt an all die Prügel, mit denen er seine Figuren
auf höchstem Sprachniveau überzieht. Die Wut
spielt eine große Rolle bei Doderer, ob verursacht
durch "foetor conciergicus" (Hausmeistergeruch), depperte
Gesichter oder gar durch unwillige Gegenstände. Im Fall
solcher Dämonie von Gegenständen, bekannt auch
unter dem Vischer-Wort "Tücke des Objekts", sind meist
die heimtückischen Agenten von "Hulesch & Quenzel"
am Werk, die für manch schäumenden Wutausbruch
verantwortlich zeichnen. Wer einen Katalog all der
möglichen Brachialitäten einsehen möchte,
sollte einen Blick in Löfflers Doderer-ABC tun.
Wie es um die therapeutische Wirkung von Professor Horns
Wutmarsch an der Nasenzange bestellt ist, und wie sich
dagegen der Beutelstich (nach Regierungsrat Dr. Schajo)
ausnimmt, ist dort ebenso verzeichnet wie die
Hintergründe der berüchtigten
Dicke-Damen-Doktrinär-Sexualität oder das Wunder
der Timurisation.
Wem der Gebrauchswert solcher Artikel gering erscheint,
verkennt leicht die Gravitationsgesetze einer Prosa, die mit
Nabokovianischer Freude am Detail sich zur irritierenden
Groteske zusammenschnurrt, um im nächsten Moment zum
großformatigen Gesellschaftspanorama
aufzureißen. Hier bieten Löfflers Chronologien
der Strudlhofstiege und der Dämonen
nützliche Hilfe, hier erschließt ein
Personenverzeichnis mit 337 Namen eine Welt, deren
Ausmaße an Balzacs, Zolas oder Prousts Panoramen
denken läßt. Nicht in jedem Fall jedoch ist der
Erkenntnisgewinn gleich einzusehen: man fragt sich schon,
was man mit der Auszählung einzelner Farben (652 mal
Weiß im ganzen Werk) und der Angabe, in den
späten Erzählungen gäbe es 1,57 Farbnennungen
pro Seite nun anfangen soll. Da wird das
Enzyklopädische leicht beliebig.
Aber sonst fängt Löffler mit leichter Hand die
Grillen der exzentrischen Sprachphantasie Doderers ein und
bettet sie auf poetologischen Übersichtsartikeln, die
zurückhaltend gegenüber Doderers apodiktischen
Theoriekonzepten in summa drei Merkmale seiner Prosa
herausarbeiten: Interdependenz, Erinnerung und Metaphorik.
Diese Zurückhaltung allerdings hätte Löffler
auch gerne gegenüber der arrivierten Doderer-Philologie
walten lassen dürfen; manches Mal läßt er
der Eitelkeit doch allzu sehr die Zügel, etwa wenn er
Kollegen mit einem "merkt überhaupt nichts" abstraft
oder von wenigen "bedeutenden Massiven" abgesehen "viele
flache Hügel" der Forschung beklagt.
Doderer arbeitete am "totalen Roman"; Henner Löffler
liefert uns das totale Kompendium dazu. Sicher, einige
Fehler (wie z. B. "foetus conciergicus", S. 199) wären
noch nachzuweisen, ein paar Tabellen weniger hätten es
auch getan, aber in toto ist es doch ein höchst
nützliches Buch für den Neueinsteiger. Und wer
nach dessen Lektüre nicht endlich Doderers
Merowinger zur Hand nimmt, bekommt einen Tritt in den
Hintern. Garantiert!
Oliver Jahn
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Erschienen in: "Schüsse
ins Finstere". Zu Heimito von Doderers Kurzprosa. Hrsg.
v. Gerald Sommer u. Kai Luehrs-Kaiser. Würzburg:
Königshausen & Neumann 2001 (Schriften der Heimito
von Doderer-Gesellschaft; 2), S. 268f. Abdruck mit
freundlicher Genehmigung des Verlages.
Copyright © Verlag Königshausen
& Neumann GmbH, Würzburg 2001.
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