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Wissenschaft als Finsternis? Jahrbuch der Thomas-Bernhard-Privatstiftung in Kooperation mit dem österreichischen Literaturarchiv.

Wissenschaft als Finsternis? Jahrbuch der Thomas-Bernhard-Privatstiftung in Kooperation mit dem österreichischen Literaturarchiv. Hrsg. v. Martin Huber u. Wendelin Schmidt-Dengler. Wien: Böhlau 2002. 208 S., Broschur, EUR 24,90

"Wir haben uns der Finsternis als einer Wissenschaft ausgeliefert", zitiert sich selber Fürst Saurau in Thomas Bernhards Roman Verstörung. Das erste Jahrbuch der Thomas-Bernhard-Privatstiftung rekurriert auf diese Feststellung des Fürsten als Fragestellung, unter deren Banner hier an das Werk des Autors herangegangen werden soll.

So erscheint es allzu naheliegend, daß Margarete Kohlenbach in ihrem Beitrag "Das Unbehagen an der Wissenschaft" (S. 27 - 38) für "das angestrebte methodisch gesicherte Vorgehen der Bernhardforschung" zu klären versucht, in welchem "Verhältnis" die "Literaturwissenschaft zu dem steht, was Bernhard ‚Wissenschaft' nennt" (S. 27). Daß eine solche Betrachtung zwangsläufig auf die Warnung hinausläuft, sich bei literaturwissenschaftlicher Annäherung an Bernhards Oeuvre nur nicht dem darin vorgestellten - einem romantischen Ideal gehorchenden - Verständnis von Wissenschaft zu unterwerfen, ist vorhersehbar. Alles andere wäre auch überraschend gewesen.

Vor dem Mechanismus, den Kohlenbach in ihrem Klärungsversuch der Literaturwissenschaft präventiv unterstellt, wird seinerseits im vorliegenden Band gleich mehrfach gewarnt. So etwa gleich zu Beginn von Wendelin Schmidt-Dengler in seinem Aufsatz "Absolute Hilflosigkeit (des Denkens)" (S. 9 - 18): "Die Kategorien der Beschreibung dem Werk Bernhards selbst abzulesen, ist eine geläufige Praxis, und es gibt kaum eine Studie, die sich bei der Wahl der Methode den suggestiven Formeln Bernhards als einem Zugseil der Heuristik nicht anvertraut hätte. [...] So verführerisch dieses Verfahren auch ist, es macht den Interpreten auch zum Gefangenen des Werks." (S. 14f.) Nun, zu Schmidt-Denglers Mahnung gibt es, wie die Forschungsliteratur zeigt, allen Grund. Kohlenbachs Befürchtungen aber reichen über spezifische Fragestellungen hinaus: Sie betreffen das Selbstverständnis der Literaturwissenschaft als einer dem modernen Wissenschaftsbild zu genügen habenden Forschungsdisziplin überhaupt. So unsicher hingegen dürfte dieses Selbstverständnis auch heute nicht sein, daß die Literaturwissenschaft, wo sie sich - und das seit Jahren in größter Intensität - mit Bernhard auseinandersetzt, samt und sonders in eine prämoderne, romantische Praxis zurückfiele.

Was der vorliegende Band versucht und was ihm recht gut gelingt, ist ein tatsächlich schon länger ausständiges Resümee des aktuellen Stands der einschlägigen Forschung, das Anzeigen von Ansätzen, von "denen aus die Analyse vorangetrieben werden kann" (Vorwort). Die zusammengestellten Beiträge sind dem weiten Spektrum von Zugängen der Bernhard-Forschung an das Werk des Autors angemessen. Dabei freilich sind die an den Anfang der Sammlung gestellten Beiträge noch eher dem Titel des Bandes geschuldet und dürften für die Diskussion des Forschungsstands wenig fruchtbar sein: Hans Höller diskutiert unter dem Titel "Bernhards Wissenschaft" (S. 19 - 26) verschiedene "Aspekte der Darstellung von Wissenschaft in Bernhards Schreiben" (S. 19), Margarete Kohlenbach in ihrem Aufsatz die Position der Literaturwissenschaft zu diesem Wissenschaftsbild. Das Verhältnis des Subjekts in Verkörperung von Bernhards Protagonisten zur "eher an die frühromantische, idealistische Universalwissenschaft als Universalpoesie" (S. 51) erinnernden textimmanenten Wissenschaft bespricht Herbert Gamper ("Über dem ,Wissenschaftsabgrund'", S. 51 - 63). Unter dem Titel ",Modern Times' in der Prosa des Thomas Bernhard" (S. 39 - 50) wird weiters von Alfred Pfabigan das Prosawerk des Autors "als Begleittext [der] ‚Modernisierung' der österreichischen Gesellschaft auf wirtschaftlicher, sozialer und politischer Ebene" (S. 40) gelesen. Dieser in Nähe zu Pfabigans Gesamtwerk-Relektüre Thomas Bernhard. Ein österreichisches Weltexperiment angesiedelte Versuch erweist sich als gewinnbringend, wo sich in der Betrachtung des Gesamtoeuvres zwischen den - als Produkte eines Baukastensystems gedachten - Protagonisten Tendenzen einer Fortentwicklung vor allem hinsichtlich der geübten Lebenskunst attestieren lassen. Wo aber etwa vorgeführt wird, in welchem Buch der Gebrauch des Autos zur Selbstverständlichkeit geworden ist, scheint dieser produktive Ansatz aus dem Blick und die Literatur zum kulturgeschichtlich dienstbar gemachten Spiegel zu geraten. Übrigens belegt Pfabigan ungewollt (ein weiteres Mal), wie schwer der seinem Unternehmen zugrunde liegende Impetus, die vielfach verstellte Handlungsebene von Bernhards Werken gründlich ab- und aufzuarbeiten, tatsächlich umzusetzen ist: Weder ist, wie vom Verfasser behauptet, der Chemiker Hollensteiner aus Gehen ein zurückgekehrter Exilant noch hat Karrer tatsächlich vor, Hollensteiners Lebensgeschichte eine Studie zu widmen.

Verdienstvoll ist Oliver Jahraus' Untersuchung des Zusammenhangs zwischen der Textkonstitution und dem Figurentypus des sogenannten Geistesmenschen ("Von Saurau zu Murau", S. 65 - 82). Jahraus gelingt es nicht nur, mit dem Textkonstitutionsprinzip den spezifischen Zusammenhang von Text- und Figurenebene zu formulieren, sondern überdies darzustellen, daß diesem Prinzip sich ebenfalls die rezeptionsseitig geübte Verknüpfung von Einzeltext und Gesamttext (ein von Pfabigan geprägter Terminus) verdankt. Zugleich erreicht Jahraus, indem er einen direkten Zusammenhang zwischen der dynamischen Subjektkonstitution und dem als solche instituierten Kommunikationsprozeß und damit auch der Textkonstitution belegt, eine Rückbindung von Pfabigans früherem Großprojekt der Darstellung der Entwicklungsgeschichte von Bernhards Protagonisten im Rahmen des Gesamtwerks an die textliche Ebene.

Eva Marquardts Beitrag "Die halbe Wahrheit" (S. 83 - 93) über den "Widerspruch als Gestaltungsprinzip" (S. 85) erweist sich vor allem im Hinblick auf Mireille Tabahs feministischen Forschungsansatz als erhellend. Wiewohl Marquardt selbst einer früheren Arbeit Tabahs kritisch gegenübersteht, liefert eine Parallellektüre der beiden aktuellen Aufsätze insbesondere hinsichtlich der Darstellungen am Beispiel der Reflexionen Muraus (Auslöschung) gewisse Synergien. So läßt sich etwa aus diesem Vergleich erklären, warum das nunmehr von Tabah aufgeworfene Projekt so lange auf sich warten hat lassen.

Mit Tabahs vorliegender Untersuchung "Geschlechterdifferenz im Werke Thomas Bernhards" (S. 133 - 144) ist endlich jene - bislang lediglich nach Kräften ignorierte - aggressiv feministische Studie von Ria Endres, die Bernhards Literatur äußerster Misogynie verdächtigte, (gemäß ihrem Titel) "[a]m Ende angekommen". Das zentrale Ergebnis von Tabahs Untersuchung lautet: "Bernhards Männergestalten haben gegen allen Anschein keine feste Geschlechtsidentität" (S. 141). Dieser Befund schließt einiges mit ein: Aufgrund der defizitären Identität unterwerfen sich die Protagonisten, so Tabah, in Form einer Maskerade den Codes des Patriarchats und grenzen sich gegen die als böse imaginierte Weiblichkeit ab. Dabei wird vom Autor das Projekt der absoluten Macht männlichen Geistes über die weibliche "Natur" als Phantasma blamiert und in Überzeichnung die Figuren in ihrem Verhalten karikiert. Nimmt man das Gesamtwerk des Autors in den Blick, erweist sich zudem, daß in späteren Werken zunehmend Selbstzweifel der Protagonisten artikuliert und - etwa in Gestalt der Perserin (Ja) oder von Rudolfs Schwester (Beton) - weibliche Gegenstimmen gegen das destruktive Potential solcher Lebensart laut werden. Nach dieser unbedingt unterstützenswerten Lesart muß Bernhards Literatur eher als Subversionsversuch der traditionellen Geschlechterrollen denn als literarische Perpetuierung derselben verstanden werden: "Die kulturelle Konstruiertheit von Männlichkeit, ihr maskenhafter Charakter, wird gerade durch die grotesk ostentative Zurschaustellung nutzloser männlicher Geistesstärke entlarvt." (S. 140) Ob (und inwieweit) ein solcher Blick auf das Werk als feministisch zu bezeichnen ist oder ob er nicht eher als eine Perspektive der allgemeinen Genderforschung gelten müßte, bleibt freilich fraglich. Aber das Label, unter dem Forschung betrieben wird, sollte ohnehin Nebensache sein.

Zwei weitere verdienstvolle Unternehmungen, mit denen das Jahrbuch aufwarten kann, sind einerseits Gudrun Kuhns Überprüfung ("Musik und Memoria", S. 145 - 161) dessen, was es mit der von Autor wie Forschung viel propagierten Bezeichnung der Bernhard-Literatur als "musikalisch" auf sich hat, und andererseits Jean-Marie Winklers Eintreten für eine Entzerrung Bernhards in der Rezeption und gegen die damit im Zusammenhang stehenden Klischierungen ("Rezeption und/oder Interpretation", S. 163 - 180). Hier lassen wiederum die von Bernhard suggerierten Lesarten grüßen, sowohl in der Forschung als auch in der öffentlichen Wahrnehmung, wo sie sich diesmal gegen den Autor selbst wenden. Kuhn räumt zunächst mit der unreflektierten und unfundierten Verwendung musikologischer Begrifflichkeiten in der Bernhard-Forschung auf. Als rezeptionsästhetisches Phänomen aber wird Musikalität von der Autorin durchaus ernst genommen und auf seine ästhetische Wirkung und sinnstiftende Dimension innerhalb des Werks befragt. Ebenfalls als rezeptionsästhetische Phänomene sind auch jene Effekte zu beschreiben, gegen die Winkler Bernhards dramatisches Werk in Schutz zu nehmen versucht. Daß Bernhards Strategie der Irritation, die sich gegen den Erwartungshorizont eines österreichischen oder deutschen Publikums der 70er und 80er Jahre wandte, etwa bei heutigen französischen Inszenierungen von Heldenplatz kontraproduktive - nämlich unkritisch österreichfeindliche - Wirkungen entfalten kann, wird von Winkler ebenso aufgezeigt wie die Grenzen, die solches Gründen auf immanenten Provokationen der Wirkung eines Theaterstücks setzen kann. Geradezu grotesk erscheint es da übrigens, daß einerseits Winkler Bernhard gegen politische Vereinnahmungen hinsichtlich plumper Österreichfeindlichkeit und einer Gegnerschaft gegen Schwarzblau verteidigen muß, während Kuhn andererseits nicht umhin kommt, den Autor gegen die Anwürfe eines Werner Schneyder, der Bernhard als Wegbereiter rechtslastiger Ideologien bezichtigt, in Schutz zu nehmen.

Anregend verläuft auch Anne Bettens sprachwissenschaftliche Annäherung an den Autor ("Thomas Bernhard unter dem linguistischen Seziermesser", S. 181 - 194), in der verschiedene Aspekte möglicher systematischer Betrachtungen auf der Wort-, Satz- und Textebene vorgestellt werden. Im Rahmen eines Jahrbuchbeitrags kann man einem solchen Unternehmen freilich unmöglich gerecht werden, und so bleibt es hier leider eher nur bei einigen - allerdings vielversprechenden - Arbeitsvorschlägen.

Schließlich berichten Manfred Mittermayer ("Das Leben und die Literatur", S. 109 - 132) und Martin Huber (",schrieb und schrieb und schrieb...'", S. 195 - 205) im Zusammenhang mit der Ausstellung Thomas Bernhard und seine Lebensmenschen. Der Nachlaß über Autobiographisches in Bernhards Werk und erste Erkenntnisse aus dem Nachlaß, so etwa über die Arbeitsweise des Autors, über die man beispielsweise aus den (von Bernhard zur Selbstproduktion gebrauchten) langen Fernsehinterviews Krista Fleischmanns nie etwas erfahren hat. Die Zugänglichmachung des Nachlasses im Ende 2001 eröffneten Thomas-Bernhard-Archiv in Gmunden (Oberösterreich) kann mit Schmidt-Dengler in der Tat als "Übergang in eine neue Phase der Forschung" (S. 17) gesehen werden. Das daraus erwachsende Kapital wird wohl für beinahe alle im vorliegenden Band aufgeworfenen Forschungsansätze fruchtbar gemacht werden können. Auf die neuen Erkenntnisse der Bernhard-Forschung in den nächsten Jahren und auf die kommenden Jahrbücher darf man also gespannt sein.

Stefan Winterstein

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Copyright © Stefan Winterstein, Wien 2003.
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