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Exil. Forschung · Erkenntnisse · Ergebnisse 22 (2002), H. 1.

Exil. Forschung · Erkenntnisse · Ergebnisse 22 (2002), H. 1. Frankfurt a. M. 2002. 109 S., Broschur, EUR 11,80
 
Das Heft setzt ein mit der Dankesrede Marcel Reich-Ranickis zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität München am 10. Juli 2002. Wesentlich reizvoller als die ansonsten durchaus konventionelle Rede „München und der Geist der Erzählung“ (S. 5 - 10), in der nacheinander von Lion Feuchtwanger, Thomas Mann, Wolfgang Koeppen, Hellmuth Karasek und natürlich München gehandelt wird, ist allerdings Reich-Ranickis einleitende Abrechnung mit der „neue[n] deutsche[n] Mordphantasie“ des als „Autor vom Bodensee“ kenntlich und zugleich anzüglich anonymisierten Martin Walser, in der sich Reich-Ranicki in ebenso unfreundlicher wie antisemitischer Weise porträtiert findet, und die ihm zum „trübe[n] Symptom“ wird für das, was „in Deutschland im Jahre 2002 möglich ist“.
 
In seinem überaus sachkundigen Beitrag „,...die von uns geforderte Bewährungsprobe nicht bestanden...‘ - Die Situation emigrierter Schriftsteller in der Schweiz der Jahre 1933 bis 1950“ (S. 11 - 22) geht Charles Linsmayer auf die Lage jener Exil-Autoren ein, die zur Zeit ihres Aufenthaltes in der Schweiz (noch) nicht als prominent galten. Ihre stets von drohender Abschiebung bestimmte Situation war geprägt von Hunger und Armut bzw. von Internierung bis hin zu Inhaftierung und Folter (!) im Falle einer Einstufung als „politisch gefährlich“ (S. 13). Der Beitrag gibt dabei weniger einen Überblick über die Lage einzelner Autoren als über die unrühmliche Rolle des Schweizer Schriftsteller-Vereins (SSV), der als Standesorganisation das Auskommen seiner Mitglieder wesentlich höher bewertete als die Gefährdung der Exil-Autoren, und dessen Funktionäre in diesem Sinne (und in eigenem Interesse) die Exilwürdigkeit der ausländischen Kollegen für die eidgenössischen bzw. kantonalen Polizeibehörden begutachteten.
 
Reinhard Müller zeichnet in „Joseph Benjaminowitsch Selbiger - Zur Biographie eines ,namenlosen‘ Emigranten“ (S. 23 - 29) anhand einiger eindrucksvoller Dokumente das Bild eines 1935 in die Sowjetunion geflüchteten kommunistischen Zeitungsredakteurs, der im Zuge der stalinistischen Säuberungen inhaftiert wurde. Dessen letzte Perspektive nach Verhör und Folter und bald dreijähriger Untersuchungshaft war, so seine Eingabe an den Ersten Staatsanwalt der UdSSR vom 29. Januar 1941, nur mehr der Tod, den er via Urteil oder ersatzweise durch Ausweisung ins Deutsche Reich zu erreichen suchte.
 
Im vierten Beitrag des Heftes widmet sich Frithjof Trapp „Ernst Krenek im Spiegel seiner Autobiographie“ (S. 30 - 43). Trapp zeichnet ein bipolares Bild des österreichischen Avantgarde-Komponisten, der einerseits aufgrund seiner Oper Johny spielt auf zur „Zielscheibe des nationalsozialistischen ,rassistischen‘ Antisemitismus“ (S. 30) und in der Folge zu einem aktiven „Gegner des Nationalsozialismus“ (S. 38) wurde, andererseits aber - ausweislich seiner zwischen 1942 und 1952 entstandenen und infolge einer vom Autor verfügten Publikationssperre erst 1998 in deutscher Übersetzung als Nachlaßpublikation erschienenen Autobiographie Im Atem der Zeit - auch als politischen Reaktionär und Antisemiten. Bei näherer Betrachtung wirken indes einige der angeführten Belege für antisemitische Äußerungen Kreneks ein wenig überkonstruiert, so daß beinahe der Eindruck entsteht, als agiere der Autor für die ihm in solcher Weise beleidigt erscheinenden Personen in quasi stellvertretender Weise überempfindlich.
 
Nur ein Beispiel: „Ab und zu wählt Krenek ein völlig belangloses Detail aus, um mit ihm eine vehemente antisemitische Invektive zu verknüpfen: ,Fräulein Rothe war die einzige nichtjüdische Angestellte mit hoher Position in der U[niversal] E[dition]‘ (S. 222; Hervorhebung F.T.) Nach außen hin wird hier nichts anderes als ein Tatbestand formuliert. Was Krenek durch diese Formulierung sagen will, liegt allerdings auf der Hand: Das gesamte kulturelle System der österreichischen Republik ist zu dieser Zeit bereits ,verjudet‘, ,verrasst‘.“ (S. 37) Fraglos ,vehement antisemitisch‘, was Trapp da als Folgerung präsentiert. Ob eine solche aber tatsächlich Kreneks Intention entsprochen hat, könnte nur eine Überprüfung des „Tatbestand[es]“ zeigen, die bestätigt, daß Krenek mit seiner Aussage die Zusammensetzung der Belegschaft in der Universal Edition gemäß Trapps Unterstellung, das heißt tendenziell falsch im Sinne eines gängigen antisemitischen Vorurteils dargestellt hat. Da indes Frauen auch im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts selten in „hohe[n] Position[en]“ vertreten waren und der 1901 gegründete Musikverlag als Unternehmen in (mehrheitlich) ,jüdischen Besitz‘ nach dem Anschluß Österreichs arisiert wurde, ist es gleichwohl keineswegs unwahrscheinlich, daß Krenek in diesem Fall auch ,nach innen hin‘ einen schlichten „Tatbestand“ mitgeteilt hat.
 
Es ist in diesem Rahmen freilich nicht möglich, alle Stellen, die zur Grundlage für Trapps Verdikt gegen Krenek wurden, zu überprüfen und gegebenenfalls neu zu bewerten. Doch selbst wenn man alle Belege als evident annimmt, so werden sie doch durch eine Anmerkung Trapps wieder generell in Frage gestellt. In dieser konzediert er, daß „Kreneks Antisemitismus im wesentlichen offenbar noch dem 19. Jahrhundert angehört, also nur wenig mit dem ,modernen‘ (exterminatorischen) Antisemitismus der NS-Regierung gemeinsam hat.“ (S. 43, Anm. 21) Da er jedoch zugleich jeden Beleg für eine wie auch immer geartete „exterminatorische“ Tendenz Kreneks schuldig bleibt, gewinnt man am Ende eher den Eindruck, als sei mit Krenek, der in seinen privaten Aufzeichnungen (im Gegensatz zu seinen zu Lebzeiten publizierten Schriften) mit Invektiven generell nicht geizte, letztlich bloß ein grantelndes Leitfossil aus einer anderen Zeit unverhofft ins allzu feinmaschige Netz einer rasenden political correctness geraten.
 
Angesichts einer solchen politisch-moralischen Rigorosität wundert es denn auch nicht, daß Trapp in seiner im gleichen Heft erschienenen Rezension von „,From Vienna‘. Exilkabarett in New York 1938 bis 1950“ (S. 99 - 101) bemängelt, daß der „Akzent“ des besprochenen Handbuchs (!) „oftmals zu stark auf dem Faktischen“ liegt und daß „[ä]sthetische oder politische Wertungen [...] zu stark in den Hintergrund“ (S. 101) treten würden.
 
Günter Rinkes Beitrag „Vom alten Österreich nach Kalifornien - Der Schriftsteller und Herausgeber Paul Elbogen“ (S. 62 - 71) gibt einen Überblick über das Leben des am 11. November 1894 in Wien geborenen Paul Elbogen und schöpft dafür nicht selten aus dem reichen Fundus von Elbogens 2002 bei Picus in Wien erschienener (und sehr zu empfehlender) Autobiographie Der Flug auf dem Fleckerlteppich. Wien - Berlin - Hollywood sowie einiger noch unveröffentlichter Briefwechsel. Der bereits in Wien als „Redakteur der mondänen illustrierten Zeitschrift Moderne Welt“ zum erfolgreichen Journalisten aufgestiegene Elbogen ging 1929 nach Berlin zum „,snobistische[n]‘ Herrenmagazin Blau-rot“ (S. 64). In die Berliner Zeit Anfang bis Mitte der 30er Jahre fallen auch seine Erfolge als Herausgeber von kommerziell teils ausnehmend erfolgreichen Anthologien. Bis Juli 1935 konnte der - so seine halb ernst, halb ironisch gemeinte Selbstcharakterisierung - „,homo non politicus‘“ (S. 64) Elbogen, da er in der sogenannten „Judenliste“ der Reichsschrifttumskammer geführt wurde (RSK-Mitglieds-Nr. 4.890), unter dem - offiziell genehmigten - Pseudonym Paulus Schotte in Deutschland publizieren bzw. als Österreicher „unbehelligt“ (S. 65) in Berlin leben. Eine Tatsache mithin, die (dies nur als ergänzende Randbemerkung) Elbogen in seinen Briefen an Heimito von Doderer anläßlich seiner Lektüre der Strudlhofstiege wohlweislich verschwiegen hat, vermutlich um seine heftige und teils mit großem Pathos vorgetragene Kritik am ehemaligen Freund, den er der Kollaboration mit den Nationalsozialisten (Doderer wurde bei der RSK unter der Mitglieds-Nr. 13.801 geführt) beschuldigte, nicht relativieren zu müssen: „Einen echten Freund, einen Mann, den ich als Schriftsteller immer zuhöchst schätzte [...], der sich ohne Zwang [...] auch nur für einen Tag auf die Seite der Unmenschen stellte, die am organisierten Mord von 25 Millionen schuldig waren, konnte und könnte ich nicht wieder ins Herz aufnehmen.“ (Brief Elbogens an Heimito vom Doderer vom 7. Juni 1951.)
 
Nach längeren Aufenthalten in Italien und Großbritannien und der Rückkehr nach Wien floh Elbogen nach dem Anschluß Österreich über Italien nach Frankreich und gelangte schließlich über Spanien und Portugal am 2. September 1941 in die USA, wo er schon bald Arbeit als Berater der großen Filmgesellschaften in Hollywood fand. Nach Ende des 2. Weltkrieges wandte er sich wieder verstärkt der Literatur zu. 1949 erschien die fiktive Künstlerbiographie Dram, die sich in kritischer Weise mit der Philosophie Nietzsches auseinandersetzte, ein Roman (dies wiederum als ergänzende Marginalie), den Doderer 1952 über seinen Lektor erhalten (vgl. Brief Doderers an Horst Wiemer vom 4. März 1952, s. TEXT + KRITIK; 150, S. 30f., hier: S. 30) und ausweislich der Eintragungen in seinem Notizbuch am 28. Februar und vom 20. bis 25. März 1952 (vgl. Doderers „[Notizbuch] 1952“. Ser. n. 14.208 d. ÖNB) auch gelesen hat. Elbogens eigene Beschäftigung mit Nietzsche dürfte übrigens mit ein Grund dafür gewesen sein, warum er die Strudlhofstiege in eine ungute Linie Nietzschescher Tradition stellen zu können glaubte, (vgl. Brief Elbogens an Heimito vom Doderer vom 29. Juni 1951). Pikanterweise (dies als letzte Anmerkung am Rande) hat Doderer seinen „alte[n] Spezi“ (Brief Doderers an Horst Wiemer vom 4. März 1952, a.a.O., S. 30) als anonyme Figur auf S. 349 der Strudlhofstiege auftreten lassen (vgl. dazu a. S. 546 der Tangenten), was Elbogen, wie er brieflich bestätigte, wiederum bekannt war: „in ,Strudlhofstiege‘ gibt es eine Szene, wo Siebenschein erwaehnt, sie habe einen alten Freund, der sei so mitleidvoll gewesen - - zum Unterschied von Doderer - Stangeler. Das war ich; und ich war es, der ihm das Ganze aus Neapel, wo ichs erlebte, erzaehlte.“ (Brief Elbogens an Engelbert Pfeiffer vom 2. November 1986.)
 
Bis zu seinem Unfalltod am 10. Juni 1987 blieb Paul Elbogen produktiv als Autor von Romanen, Kritiken und Essays sowie als Herausgeber weiterer Anthologien.
 
Abgerundet wird das Heft durch einen auf Grundlage neu aufgefundener Materialien überarbeiteten Beitrag von Dieter Schiller („Alfred Döblin, Hans Siemsen und der Bund Neues Deutschland 1938 / 1939“, S. 44 - 61) zum von starken Rivalitäten geprägten französischen Exil, eine in die Schreibwerkstatt des Dichters blickende Abhandlung von Sandra Hirsch („Bildwelten eines Königs - Zur Verwendung und Funktion der Bildquellen in den Henri-Quatre-Romanen Heinrich Manns“, S. 92 - 98), die sich erfreulicherweise nicht in Bestimmung und Aufzählung ikonographischer Vorlagen erschöpft, sondern auch die Frage nach der Funktion ihrer Bearbeitung bzw. Verfremdung stellt, sowie eine literarische Collage von Momme Brodersen („,Seine Zeit wird kommen...‘ - Hans Sahl: ein Porträt in Form einer Montage zu seinem 100. Geburtstag“, S. 77 - 86).
 
Insgesamt bietet das Heft weniger einen Überblick denn - für ein Periodikum durchaus angemessen - ein breites Spektrum von Beiträgen zu den zahlreichen Facetten des literarischen Exils. Publikationen zu Heimito von Doderer wird man im thematischen Rahmen der Zeitschrift „Exil“ naturgemäß vergeblich suchen, dennoch lohnt es sich auch bei auf Doderer fokussierter Interessenlage doch immer wieder, die Hefte der Zeitschrift durchzusehen, da sie nicht selten Beiträge zu Personen enthalten, die mit dem Autor in Kontakt standen, und sei es auch nur, um einmal eine andere Perspektive auf den Autor zu gewinnen.
 
Gerald Sommer

Mail an den Rezensenten

Erschienen in: Gassen und Landschaften: Heimito von Doderers „Dämonen“ vom Zentrum und vom Rande aus betrachtet. Hrsg. v. Gerald Sommer. Würzburg 2004 (Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; 3), S. 480-483. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Copyright © Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2004.

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