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"Excentrische Einsätze". Studien und Essays zum Werk Heimito von Doderers.

"Excentrische Einsätze". Studien und Essays zum Werk Heimito von Doderers. Hrsg. v. Kai Luehrs. Berlin u. New York: Walter de Gruyter 1998. XIV, 355 S., gebunden, EUR 98,- / SFr 157,- / US$ 98,-

Das Interesse der literarischen Öffentlichkeit für einen Autor bleibt selten konstant, sondern unterliegt zumeist größeren oder kleineren Schwankungen, richtet sich nach Moden, ästhetischen Trends und politischen Konventionen. Nicht einmal die Größten sind dagegen gefeit, auch wenn die Fachwelt ihnen und ihrem Werk ununterbrochen ihre Aufmerksamkeit schenkt. Dieses regelmäßige Pendeln zwischen Bejubeltwerden und In-Vergessenheit-Geraten resultiert aber nicht nur aus der instabilen Akzeptanz des Leserpublikums, sondern auch aus der ewigen Wiederkehr runder Geburts- und Todestage; die runde Zahl provoziert - schließlich sind wir Gefangene des Dezimalsystems.

1996 feierte die literarische und germanistische Welt den 100. Geburts- zugleich mit dem 30. Todestag Heimito von Doderers, was zu einer Flut von Veröffentlichungen und einer gewissen Renaissance des außerhalb Österreichs bereits etwas in Vergessenheit geratenen Autors führte, vor allem aber die Interpreten zu einer erneuten Reflexion anspornte. Die von Kai Luehrs edierte Sammlung von Studien und Essays mit dem charakteristischen Titel "Excentrische Einsätze" ist indessen kein gewöhnlicher Sammelband im Sinne einer routinemäßigen Dokumentation der anläßlich dieser Jahrestage entstandenen Beiträge. Sie synthetisiert nicht so sehr die Positionen der älteren Forschung, sondern fokussiert vielmehr die Ergebnisse einer neuen Doderer-Lektüre, die sich bemüht, der Welt des "totalen Romans" neue Erkenntnisse abzugewinnen. Es sind tatsächlich viele neue Perspektiven, sowohl in literarhistorischer als auch in methodologischer Sicht, auch wenn es auf der Umschlagrückseite des Buches tiefstaplerisch-kokett heißt: "Als excentrisch, d. h. von der Peripherie der heutigen Doderer-Rezeption herkommend, lassen sich auch die Studien und Essays begreifen, die auf Tagungen zu Doderers 100. Geburtstag im Jahre 1996 in Edinburgh und Berlin vorgetragen wurden, und die sich dem Werk des österreichischen Romanciers in umfassender Weise widmeten." Der Etikettierung als "excentrisch" kann man wohl zustimmen, das Spektrum der Problemstellungen hingegen ist keineswegs "peripher", sondern - ganz im Gegenteil - oft fundamental, die aufgeworfenen Fragen eröffnen neue Perspektiven. Gerade die exzentrische ,Positur' Doderers, die gewollt, gespielt und durchaus literarisiert war, erklärt die Tatsache, warum uns dieser Autor, aber auch dieser Mensch keine Ruhe läßt.

Demzufolge berücksichtigt der Sammelband auch das "scheinbar Nebensächliche[...] und Marginale[...]" (S. IX): "erzähltechnische[...] Regeln und Praktiken", Doderers Mitgliedschaft in der NSDAP, sein (mit dem Titel von Wolfgang Fleischers Biographie gesprochen) "verleugnetes Leben", synchronische und diachronische Bezüge zur österreichischen Literatur und die Frage nach der österreichischen Identität, vor allem aber nach der Modernität dieses Autors. "Excentrisch nämlich war auch Doderers eigenes Verhältnis zur erzählerischen Tradition seines Jahrhunderts. [...] Entsprechend anerkennt die Mehrzahl der im vorliegenden Band versammelten Beiträge Doderer nicht mehr nur als ,Epochenverschlepper' oder als ,trotzige[n] Gegenspieler' der Moderne (Wolfgang Rath), sondern als einen Autor mit spezifischem Modernitätsanspruch." (S. XI)

Der Band enthält 26 Beiträge von 22 Autoren, unter denen sich sowohl die Doderer-Forscher der ersten Stunde befinden, wie Dietrich Weber und Wendelin Schmidt-Dengler, Schriftsteller, die Doderer noch persönlich kannten (Friedrich Achleitner, Friedhelm Kemp und Peter Marginter), aber auch eine Vielzahl jüngerer Literaturwissenschaftler. Man könnte meinen, daß dieser von Anfang an disparate Ansatz zu einer methodischen und thematischen Vielfalt hätte führen müssen, die sich keinesfalls auf einen Nenner bringen läßt. Und dennoch war ein Fazit möglich: "Trotz signifikanter methodischer Unterschiede erschien es doch als die gemeinsame Intention aller, auf den ideologiekritischen Erkenntnissen der 70er Jahre aufbauend den Faden gerade dort wiederaufzunehmen, wo ihn die Kritiker Doderers ostentativ hatten fallen lassen: bei der Erkenntnis der Disparatheit und der Widersprüchlichkeit eines Schriftstellers, dessen ausladende und überaus komplexe Erzählweise bis heute eine Provokation der Moderne darstellt." (S. Xf.)

Neben dieser Hauptachse gibt es jedoch genug ,Excentrisches' (im oben erwähnten Sinne des scheinbar Periphären und Nebensächlichen), das Interesse verdient. Bereits am Anfang formuliert Adolf Haslinger entscheidende Fragen nach der tatsächlichen Renaissance Doderers und nach seiner Aktualität, mit anderen Worten: "In welcher Weise existiert Doderer heute noch in den Köpfen der Leser und Autoren?" (S. 1) Als besonders wichtig für die zukünftige Beschäftigung mit Doderer erscheinen ihm folgende drei Aspekte: ein radikales Überdenken des Methodenspektrums, die erneute Lektüre auch der "uns anscheinend längst bekannten Texte" sowie ein neues, "präzises Instrumentarium [...], das Doderer und seiner literarischen Leistung gerecht wird" (S. 11). Rudolf Helmstetter konzentriert sich auf Doderers unleugbare Modernität, zumal, wie er feststellt, eine "neue, unbefangenere Lesergeneration herangewachsen ist" (S. 12). Nicht mehr das Dilemma "traditionell" versus "modern" soll diese erneute Lektüre bestimmen, mit Recht könne Doderer als "Zerrüttmeister des realistischen Schreibens" (S. 19) gesehen werden, der durch seine "transnarrative" Schreibweise ein "ludistisch-systematische[s] Umspielen [...] des Erzählten" provoziert (S. 23).

Viele in der Dodererforschung seit langem präsente Fragestellungen werden neu beleuchtet oder in einen neuen Kontext gestellt. Antisemitismus und "Antibochewismus" Doderers analysiert Gerald Sommers Beitrag mit dem vielsagenden Titel "Sündenbock und Prügelknabe"; der Herausgeber des Bandes, Kai Luehrs, untersucht die Idee des "punctum minimae resistentiae", die sich als Konstruktionsprinzip vieler Romane Doderers erweist. Sexuellen Konstellationen ist der Beitrag von Roderick H. Watt gewidmet, wobei Zihals "terrestrische[...] Astronomie" eine nicht unbedeutende Rolle spielt.

Bei der Lektüre des Bandes bewegen wir uns aber auch tatsächlich in scheinbar entlegene Bereiche. So beschäftigt sich etwa Torsten Buchholz mit Doderers Bezügen zum ZEN, Martin Voracek dagegen präsentiert (in Zusammenfassung seiner Dissertation) eine Typologie von Doderers Figurennamen. Der letztgenannte Beitrag ist eine literaronomastische Studie, die mit großer Akribie die Namen der Romangestalten analysiert und typologisiert, wobei ein höchst interessantes System von fast 30 Kategorien entsteht. Die Rolle der Stadt ist bei dem Architektensohn Doderer nicht zu leugnen, man denke nur an die architektonische Kulisse Wiens in Romanen wie Die Strudlhofstiege oder Die Dämonen. Kai Luehrs beweist anhand seiner Analyse von Ein Mord den jeder begeht, daß die Stadt bei Doderer allgemein als "Erkenntnismetapher" funktioniert und gar nicht wienspezifisch ist: "Es zeigt sich schließlich auch, daß das sinnhafte Antlitz der Stadt, das Doderer zeichnet, keineswegs von den prästabiliert erscheinenden topographischen Ensembles von Doderers Heimatstadt Wien abhängig ist. Es zeigt sich, etwas beinahe Selbstverständliches, die Wienunabhängigkeit von Doderers Raumkonzeption. Sie offenbart, wie sehr wir das Verständnis Doderers auch aus dem Kontext Wiens herauslösen können, in welchem es nur stellvertretend und paradigmatisch verankert ist." (S. 125) Die polyphone Konzeption des Sammelbandes bewirkt, daß dieselben Phänomene aus verschiedenen Perspektiven gesehen werden - so wiederholt sich beispielsweise die paradigmatische Struktur der Metropole Wien echoartig in Friedrich Achleitners Beitrag "Von der Unmöglichkeit, Orte zu beschreiben". Hier wird das Spezifische eines Ortes mit der literarischen Fiktion konfrontiert, vielleicht zugunsten des Ortes, der mit seinen topographischen Gegebenheiten nicht nur die Phantasie des Romanciers, sondern auch das Denken und die Wahrnehmung des real existierenden Stadtbewohners determiniert: "Fragen Sie auf der Mariahilfer Straße einen Wiener nach dem Weg zur Oper und treffen Sie dabei zufällig auf einen Wiedener, so wird Sie dieser zunächst [...] zur Wiedner Hauptstraße und von dort, weil er diesen Weg gut kennt, zur Oper schicken." (S. 131) Jedem Wiener ist die verinnerlichte Logik dieses Umweges verständlich. Für Doderer war jedoch die "Schicksalsmaschine Stadt" gleichermaßen ein Spielautomat von gewohnten Wegen und zufälligen Koinzidenzen, man denke nur an die große Reißbrettskizze zum Unfall in der Strudlhofstiege. Daß es aber in Doderers Absicht lag, diese "biographische Stadtstruktur bewußt zu zerstören" (S. 131), möchte ich gleichwohl bezweifeln.

Wendelin Schmidt-Dengler verhilft dem aufmerksamen Doderer-Leser zu einer wichtigen Entdeckung: Die Parenthesen, die scheinbar nebensächlichen Einschübe und Kommentare mitten im Satz, erweisen sich unerwartet als eigentlicher ,Haupttext': "Eines läßt sich doch allgemein festhalten: In den Parenthesen, die wir hier kurz als Nebentext fassen wollen, finden sich für den Leser Informationen, die für den Gesamtzusammenhang oft um einiges relevanter sind als das, was im Hauptsatz oder Haupttext steht, relevanter in jedem Falle als der Parenthese im allgemeinen anstünde, deren Kapazität meist eher für das Beiläufige bestimmt ist." (S. 145) Auch darin wird die "Janusköpfigkeit dieser Prosa" (S. 147) sichtbar, ebenso wie ihre Modernität.

"Poetik und Anthropologie der Revolution" (Ralph Kray), "Vorstellungen von Hexen und Dämonen in Doderers Roman Die Dämonen vor dem Hintergrund des Hexenhammers" (Marlies Michaelis) und ",Das Gesetz der Serie'" (Achim Hölter) sind drei Annäherungsversuche an den umfangreichsten Roman Doderers und beschreiten neue Wege im Sinne der erneuten Lektüre der wichtigsten Werke des Schriftstellers, die wir bereits gut zu kennen meinen. Das Gleiche gilt für Matthias Meyer ("Genealogie, Geschichte und Gregor. Zur Funktion von Geschichtlichem in Doderers Merowingern"), Klaus Zelewitz ("Reiben von Zeiten und Räumen: Die Wasserfälle von Slunj") und Wendelin Schmidt-Dengler ("Das Verbrechen, die Verbrecher und der Autor als Leser. Anmerkungen zu Heimito von Doderers Romanfragment Der Grenzwald"). Alle Autoren der Beiträge schlagen neue Interpretationsparadigmen vor, die zu einer bewußten, z. T. umdeutenden Reflexion führen.

Der darauf folgende Themenkomplex betrifft Doderers österreichische Bezüge, Fragen nach der Identität, Inspirationen, die Doderer aufnahm und Autoren, die er beeinflußte. In diesem Kontext erscheinen Musil, Altenberg und Otto Weininger, wobei Gerald Sommer anhand des letztgenannten Beispiels veranschaulicht, wie "fragwürdige[...] Ideologeme" künstlerisch sinnvoll verarbeitet werden können (S. 298). Den Sammelband beschließt Dietrich Webers Besprechung der 1996 neu erschienenen Biographie von Wolfgang Fleischer, wobei die frappante Berührung zwischen dem "Verleugneten Leben" und den Abgründen des "Roman muet" weiterhin inspiriert und herausfordert.

Die diversen Perspektiven, die uns die "Excentrischen Einsätze" eröffnen, dokumentieren nicht nur das erneute Interesse an der Prosa Heimito von Doderers und den Versuch, seine Modernität zu beweisen, sie zeugen auch direkt und indirekt von dem beinahe unerschöpflichen Reichtum des "totalen Romans".

Krzysztof Lipiñski

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Erschienen in: "Schüsse ins Finstere". Zu Heimito von Doderers Kurzprosa. Hrsg. v. Gerald Sommer u. Kai Luehrs-Kaiser. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001 (Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; 2), S. 273 - 276. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Copyright © Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2001.
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