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Christopher Dietz: "Wer nicht riechen will, muss fühlen."

Christopher Dietz: "Wer nicht riechen will, muss fühlen." Geruch und Geruchssinn im Werk Heimito von Doderers. Phil. Magisterarbeit Universität Wien 1998. 98 S.

Auf die zentrale Rolle des Geruchs im Werk Doderers hat Dietrich Weber bereits 1963 hingewiesen. Und auch wenn dieser Hinweis in den zahlreichen Untersuchungen zum Romanwerk des Dichters immer dort thematisch wurde, wo es um die poetologische und ontologische Rekonstruktion seines Apperzeptionsmodells zu tun war, so hat man doch das Interesse bisher stärker auf die anderen Sinne, namentlich die optischen und akustischen Sensationen gerichtet. Zwischen Posaunenklängen und Ernstfarben hat die Forschung die olfaktorische Witterung, die Weber aufgenommen hatte, nicht selten verloren. Die erste umfassende Untersuchung zum Thema liefert nun Christopher Dietz mit seiner 1998 in Wien bei Wendelin Schmidt-Dengler entstandenen Magisterarbeit.

Ganz bewußt versucht Dietz in seiner Arbeit über die scheinbar nebenwegige Beschäftigung mit der Bedeutung von Geruch und Geruchssinn die zentralen Topoi von Doderers Romantheorie zu erschließen. Die Untersuchung folgt den Ausdünstungen der fiktionalen Außenwelt ebenso wie den Eigengerüchen der Figuren und stellt einen Konnex her zu den wesentlichen poetologischen und anthropologischen Kategorien des Autors. Der erste Teil der Arbeit befaßt sich mit der Rolle des Geruchs bei der Figurengestaltung, fragt nach den Verbindungen von "Geruch und Gewissen", "Geruch und Charakter", "Geruch und Geschlecht" sowie "Geruch und Klasse" und beobachtet am konkreten Dufterlebnis ausgewählter Figuren das Doderersche Apperzeptionsprogramm der Menschwerdung in ihren einzelnen Lebensabschnitten bzw. -übergängen. Der zweite Teil der Arbeit möchte zeigen, auf welche Weise Düfte Raum strukturieren und wie räumliche und zeitliche Dimension über die Brücke des Geruchs im Begriff der Aura verschränkt sind.

Dietz beschränkt sich in seiner ambitionierten Studie, die - für eine Magisterarbeit nicht unbedingt selbstverständlich - über das Prosawerk hinaus auch die Tagebücher Doderers einbezieht, keineswegs auf eine Kompilation der motivisch einschlägigen Stellen. Ohne die Ambivalenzen der nicht im eigentlichen Sinne wissenschaftlich fixierten Terminologie des Dichters zu übersehen, konzentriert er sich mit wohltuender Zurückhaltung auf die geruchsthematisch orientierte Interpretation der Dodererschen Begriffswelt, anstatt sich in den theoretischen Provinzen einzelner Bedeutungselemente zu verlieren. Dies gilt vor allem für den vieldiskutierten archimedischen Punkt der Dodererschen Poetik, den Begriff der Apperzeption. Ausgehend von der begrifflichen Klärung, wie sie Weber 1963 vorgenommen hat, rekonstruiert Dietz im Fortgang seiner Analyse mit ständiger Rücksicht auf die Metaphorik der Gerüche in überzeugender Weise einen Begriff von Apperzeption, der sich einem "Imperativ der Nase" (S. 14) verpflichtet weiß.

Am Beispiel der modellhaften Wandlung Leonhard Kakabsas vom Gurtweber zum Bibliothekar und Geistmenschen veranschaulicht Dietz den vorrangigen ontologischen Status, den Doderer dem Geruchssinn vor allen anderen Sinnen zugewiesen hat. Ebenso angemessen problematisiert er im Kapitel "Geruch und Charakter" den keineswegs nur schnurrigen Physiognomismus, mit dem Doderer die eigenen apperzeptionsverweigernden Vorurteile in bekannter Weise anhand literarischer Stellvertreter durchgespielt hat. Die Besonderheit des Dodererschen Charakterbegriffs stellt er am Beispiel des Hausmeistertypus heraus, dessen markant ausgeführte charakterliche Prägung in Eigengeruch und Sprache eine Weiterentwicklung im Sinne der Menschwerdungsidee zu verhindern scheint. In genauer Analyse der troglodytischen Hausmeisterexistenz zeigt er, daß vor allem defizitäre Figuren durch ihren Eigengeruch umrissen werden, während etwa ,Genies in Latenz' kaum nennenswerten Duft verströmen. Sehr treffend ist auch sein Vergleich mit der wahnhaft-bedrohlichen Figur des Hausbesorgers Pfaff in Elias Canettis Roman Die Blendung, bedauerlich ist hier nur, daß Dietz poetologisch nicht so weit ausgreift, Canettis Konzept der qua Definition wahrnehmungsgestörten Figur mit Doderers Grundproblem der Apperzeptionsverweigerung in Beziehung zu setzen. Nicht unbedingt neu, doch sehr genau in der Beobachtung des Geruchsmotive ist auch seine Zergliederung des Feuer-Kapitels der Dämonen und der vielschichtigen Bedeutung des Kampferduftes.

Im zweiten, kürzeren Teil seiner Studie diskutiert Dietz (mit Bezug auf Walter Benjamin) Doderers thomistisch grundierten Begriff der Aura, in der Innen- und Außenwelt zur Einheit werden. Ein "metaphysisches Erschauern vor der Macht und der Wahrheit der Dinge" (S. 71) spreche sich hier aus, eine Form der synästhetischen Wahrnehmung, die der Geruchsempfindung einen vorgeordneten Rang zuweise. Dietz Argumentation bleibt hier etwas diffus; zudem hätte ein Vergleich mit dem von Hofmannsthal im Chandos-Brief vorgeprägten Epiphanie-Erlebnis am Grunde einer neuen Sprache zusätzlichen Aufschluß geben können.

Mit Blick auf die auratische Verfassung der Strudlhofstiege spricht Dietz im erneuten Rückgriff auf Benjamin vom "Atmen der Aura" (S. 74), das allerdings nicht auf die Apperzeption der Gegenwart sich beschränken dürfe, sondern zur vollständigen Erfassung von Wirklichkeit erst in der Erinnerung an vergangene, ähnliche Atmosphären sich rundet. Am Beispiel Melzers zeigt Dietz die geruchsempfindliche Wahrnehmungskraft der Figur und dokumentiert überzeugend deren auratisch vermittelte Vergangenheit. Er verweist auf die Ähnlichkeit der ,memoire involontaire' Marcel Prousts zu Doderers "souvenir en choc", doch bleibt der Begriff der aufsteigenden und die Dinge umschmeichelnden Atmosphäre ein wenig blaß und begrifflich unterbestimmt; ein Blick in Michael Hauskellers grundlegende Studie zum Begriff des Atmosphärischen (Berlin 1995) wäre da gewiß hilfreich gewesen.

Von solch zarter Kritik, die eher ein Wunsch nach Ergänzung ist, bleibt das Fazit jedoch unberührt. Mit feinem Gespür für die motivisch hintersinnige und sehr vielfältige Weise, mit der Doderer die Rolle von Geruch und Geruchssinn ausstaffiert, und mit empfänglicher Aufmerksamkeit für die Emphase, mit der er in seiner Prosa den Begriff des Auratischen versieht, gelingt Dietz eine originelle Studie, die die Doderer-Forschung wohl nicht gleich auf ein neues Niveau heben wird, dieser aber zweifellos mit ihrer genauen Lektüre der Texte und anregenden Seitenblicken auf Canetti, Proust, Valéry und Huysmans Impulse zu geben vermag.

Oliver Jahn

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Erschienen in: "Schüsse ins Finstere". Zu Heimito von Doderers Kurzprosa. Hrsg. v. Gerald Sommer u. Kai Luehrs-Kaiser. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001 (Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; 2), S. 269f. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Copyright © Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2001.
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