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Eugen Banauch: Stifter und Doderer.

Eugen Banauch: Stifter und Doderer. Harmonik in erzählender Prosa. Wien: Braumüller 2001 (Harmonikales Denken; 2). 102 S., Broschur, EUR 20,- SFr 36,-

Banauchs Studie ist nach den Monographien von Buchholz (Musik im Werk Doderers 1996), Huber (Die Epiphanie des "Punkts" oder: ,Die Begegnung mit einem Lichte'. Heimito von Doderers ,mythisch-musikalische Poetik' im Kern-Raum des ,Ereignisses', 1996) und dem von Banauch - wie von Buchholz und Huber - übersehenen Bändchen von Lech Kolago (Studien zur Literatur und Musik. Warschau 1993 (Studien zur Deutschkunde; 9)), mittlerweile die vierte Arbeit, die sich mit den musikalischen Strukturen in den Werken Heimito von Doderers befaßt.

Dennoch gelingt es Banauch, sich mit seinem Erkenntnisinteresse wiederum deutlich von den Ansätzen seiner Vorläufer oder auch, je nach Perspektive: seiner Nachfolger abzugrenzen - eine Vorstufe zu den sich mit Stifter befassenden Kapiteln seiner Studie ist bereits Mitte der 60er Jahre, noch zu Lebzeiten Doderers, und wie ein auf S. 13 abgedruckter Brief Doderers an den Autor belegt: gewissermaßen unter dessen Augen, entstanden. Im Fokus der Banauchschen Studie steht das in den Werken Stifters und Doderers sich manifestierende, "musikalisch" deutbare "Proportionsdenken" (Klappentext). Bei beiden Autoren sieht der Autor einen "(bewußt oder unbewußt) konstitutiv[en]" "Zusammenhang von Musik und Sprache" als "conditio sine qua non im Sinne der Hervorbringung des Werks" als "gegeben" an, auch wenn dieser "in unterschiedlicher Weise in Erscheinung" (S. 9f.) trete. Fraglos kein geringes Vorhaben, gleichwohl, so erklärt der Autor ebenso bescheiden wie vorsichtig, wolle und könne seine Untersuchung keine erschöpfenden Analysen, sondern lediglich "Aspekte" (S. 9 u. 14) bieten.

Entsprechend zurückhaltend ist denn auch seine Kurzanalyse von "Stifters ,Nachsommer' in harmonikaler Perspektive" (vgl. S. 16 - 30), die im wesentlichen auf einen Aufsatz von Herbert Seidler aus dem Jahr 1957 ("Die Bedeutung der Mitte in Stifters ,Nachsommer'") aufbaut und dessen Ergebnisse in harmonikaler Perspektive deutet und ergänzt, Seitenproportionen innerhalb des Romans errechnet, diese Proportionen mit den Inhalten korreliert und schließlich in einem Exkurs zu den Grundlagen der musikalischen Harmonik endet.

Mit dem Wechsel zu Doderer nimmt auch die Analysetiefe der Studie deutlich zu. Ausführlich werden die musikalischen Elemente von "Doderers Romantheorie" sowie deren biographische Hintergründe referiert und in ihren Zusammenhängen dargestellt (vgl. S. 31 - 49). Resümierend ortet Banauch Doderers "Formgesetz des Romans in der Symphonik BEETHOVENS und SCHUBERTS" (S. 49), bestreitet aber zugleich und aufgrund eben dieser Sachlage die Möglichkeit einer generellen analytischen Rückführung sprachlicher Formelemente auf musikalische Formen.

In den anschließenden Kapiteln zu "Doderers Praxis in harmonikaler Perspektive" (vgl. S. 50 - 95) untersucht Banauch nacheinander vier Prosatexte Doderers. Das beginnt recht vielversprechend "dort, wo sich DODERER", so Banauch, ",nachrechnen' lassen will" (S. 50), mit einer recht gelungenen Detailanalyse der "Sonatine" (S. 50 - 54). Weniger erfreulich ist allerdings, daß der Autor gleich zwei Untersuchungen, die sich jeweils ausführlich mit Doderers kleinem Meisterwerk befassen (Lech Kolago, Studien, a.a.O., S. 97 - 102 und Reinhold Treml, "Doderers Sonatine: ,List' des Erzählers und Tiefe der Jahre". In: Schmidt-Dengler / Sommer (Hrsg.): "Erst bricht man Fenster. Dann wird man selbst eines." Zum 100. Geburtstag von Heimito von Doderer. Riverside 1997, S. 121 - 135), nicht zur Kenntnis genommen hat.

Unabhängig davon wären weitere Detailanalysen dieser Art durchaus zu begrüßen gewesen. Banauch indes wendet sich anschließend Doderers großen Romanen und ihren Makrostrukturen zu, die sich jedoch, wie im Falle der Strudlhofstiege, nicht so ohne weiteres in ein gängiges Schema einpassen lassen. So kommt der Autor nach ausführlichen Textvergleichen, umfänglichen Musikbeispielen sowie einer kritischen Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen von Buchholz und Huber zu der interessanten (wiewohl nicht unbedingt plan verständlichen) Formel: die Strudlhofstiege sei "trotz äußerer Vierteiligkeit, ein rondoartiges Gebilde, das aber zugleich der Idee des Sonatensatzes verpflichtet ist (ohne ein sogenanntes Sonatenrondo zu sein)." (S. 75) Sein zweiter Definitionsversuch liefert zwar eine wesentlich griffigere, letztlich aber pauschale Aussage, die auch mit weniger Untersuchungsaufwand zu gewinnen gewesen wäre: "Als selbständiges Ganzes betrachtet" sei die Strudlhofstiege "etwas wie eine ,symphonische Dichtung' mit drei Generalpausen." (S. 76)

Zu den Dämonen immerhin liefert Banauch den interessanten Hinweis, die von Doderer selbst ins Spiel gebrachte "Achse" des Romans sei gleichsam in dem - annähernd in der formalen Mitte des Romans stehenden - zweispaltigen Zitat aus Pico della Mirandolas Rede ,Über die Würde des Menschen' (De hominis dignitate) (S. 79ff.) verbildlicht. Erkenntnisse dieser Art sind von großem Reiz für jeden Interpreten. Indem sie eine Textstelle an einer zentralen Position innerhalb eines Werkes verorten, suggerieren sie eine gesteigerte Bedeutung der fraglichen Passage allein schon aufgrund der Exponiertheit ihres Standortes. Sie verführen jedoch auch dazu, die Exponiertheit als solche bereits als Nachweis für eine (wie immer geartete) besondere Bedeutung der so fixierten Textpassage zu werten. Bei alledem sollte man nun nicht vergessen, daß Autoren - im Gegensatz zu Komponisten - in einem Medium arbeiten, in dem sie weder die alleinige Gestaltungshoheit noch die Herrschaft über dessen Proportionen besitzen. Den Umfang eines Manuskriptes mit Einfügungen und Tilgungen auf den Umbruch des Werkes hochzurechnen, ist beinahe unmöglich; und dementsprechend aufwendig wäre denn auch ein literarisches Spiel mit Seitenproportionen. Banauchs Fixierung der "Achse" im Pico-Zitat (Dämonen, S. 657f.) vermag für sich genommen sehr wohl zu überzeugen, sein Versuch, die formale Mitte des Romans, die deutlich von dessen Seitenmitte abweicht, anhand musikalischer Formen abzusichern ("ekmelischer Halbtonschritt von 22 : 23", S. 81), wirkt dagegen eher kontraproduktiv.

(Plausibler wäre da gewiß der - musikalisch freilich bedeutungslose - Hinweis gewesen, das Pico-Zitat erscheine in der Mitte jenes zentralen Dämonen-Kapitels, dem 17 Kapitel vorangehen und 17 weitere folgen. Auf dieser Basis hätte sich ein - von musikalischen Implikationen wiederum freies - Spiel mit Zahlen und ihren Bedeutungen geradezu angeboten. Man hätte etwa aufgrund der prägnanten Zahlenkonstellation (17 : (18) : 17) und der zielgerichtet auf das Alte Testament anspielenden Überschrift des 18. Kapitels ("Triumph der Rahel") dieses Die Dämonen genannten Romans auf potentiell bedeutungstragend eingesetzte Elemente jüdischer Zahlenmystik schließen und dann feststellen können, daß die 17 in der Kabbala als Zahl der Sünde, die 18 dagegen als Zahl des Lebens gilt. Die Proportionen, die sich aus dieser Konstellation ergeben, sind aufschlußreich, zeigen sie doch ein beidseitig von Kapiteln der Sünde eingeschlossenes Kapitel des Lebens, in dessen Mitte wiederum ein Zitat aus einem Text steht, der als Rede des Schöpfers an den ersten Menschen konzipiert ist. Wundert es da noch, daß Doderer im letzten Kapitel seines Romans erwähnt, daß eine geplante "kritische Gesamtausgabe aller Schriften des Pico della Mirandola" auch dessen Texte zu "Kabbala und Astrologie" (Dämonen, S. 1333) enthalten solle?)

Im letzten Kapitel seiner Studie: "Der ,Roman No 7'" (vgl. S. 82 - 95) analysiert Banauch den Gegensatz von Wasser und Feuer in den Wasserfällen von Slunj (vgl. S. 84 - 88) und zeigt damit ganz nebenbei, daß er, bei intensiver Arbeit am Text und etwas geringerer Fixierung auf musikalische Formen, durchaus in der Lage ist, interessante Ergebnisse abseits der harmonikalen Perspektive zu präsentieren.

Fazit: den Grundlagenwerken der Doderer-Philologie wird man Banauchs Studie schwerlich zurechnen können. Gerechterweise ist aber zu betonen, daß der Autor einen solchen Anspruch auch nie erhoben hat. Sein Ziel war es, neue "Aspekte" zu bieten, und das ist ihm ganz sicher gelungen. Nicht wenige seiner Erkenntnisansätze haben den besonderen Vorzug, zu eingehenderer Beschäftigung mit Doderers Texten anzuregen, da sich für sie bei entsprechend intensiver Auseinandersetzung damit und ganz unabhängig von der methodischen Leitlinie, die harmonikal bestimmt sein kann, aber nicht sein muß, vielversprechende Ergebnisse voraussagen lassen.

Denn eines steht fest: in Doderers Werken gibt es Passagen, deren "Komponiertheit" man schwerlich wird bestreiten können, so offensichtlich zeigen sich darin Themen, Reprisen, Variationen usw. usf., Passagen, die bei genauer Analyse ihrer kompositorischen Details zeigen, wie meisterhaft Doderer sein Handwerk beherrschte, und die zugleich mit der Einsicht in ihre formale Gestaltung auch wesentliche Informationen zur Bedeutung der Texte liefern. Aber gerade weil dem so ist, weil Doderers Prosa, sofern man die dafür notwendige Arbeit nicht scheut, bis in ihre Mikrostruktur hinein einer Erkenntnis zugänglich sein kann, darf ein solch arbeitsintensives Vorgehen von Forschern auch verlangt werden. Insofern ist die Erkenntnis der Sonatensatzform als Gestaltungsprinzip Dodererscher Romane nicht als Endergebnis, sondern als Grundlage für weitere Untersuchungen zu werten, dies nicht zuletzt deshalb, weil der Autor sie durch theoretische Äußerungen und eine entsprechende Segmentierung seiner Werke als Makrostruktur vorgegeben hat.

Derartige, zur Mikrostruktur vordringende Ergebnisse in Banauchs Studie lesen zu können, wäre von daher betrachtet selbstverständlich vorzuziehen gewesen. Da der Autor indes die "Frage nach der Möglichkeit einer harmonikalen Poetik" nicht nur wissenschaftlich, sondern (wie der Klappentext ankündigt) auch literarisch - anhand seines in Entstehung befindlichen "Roman-Triptychons ,Sinfonietta'" - zu beantworten beabsichtigt, darf man einerseits auf den poetischen Ertrag gespannt sein und andererseits hoffen, daß Herr Banauch, eingedenk der nicht eben leicht zu vermittelnden musikalischen Strukturen in erzählender Prosa, zu seinem Opus auch einen einschlägigen Kommentar verfassen möge.

Gerald Sommer

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